Verbrechen der Wirtschaft

5. September 2013

Hintergründe der Entschädigungszahlungen an ehemalige
Zwangsarbeitskräfte. Von Thomas Kuczynski

Nov.-Dez. 2011

Thomas Kuczynski

Jg. 1944, studierte von 1963 bis 1968 Statistik an der Hochschule für Ökonomie, Berlin-Karlshorst, promovierte 1972 bei Hans Mottek über das Ende der Weltwirtschaftskrise in Deutschland (1932/33), arbeitete von 1972 bis 1991 am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR und war (von 1988 bis 1991) dessen letzter Direktor. Sein 1999 vorgelegtes Gutachten zum Thema »Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im ´Dritten Reich´ auf der Basis der damals erzielten zusätzlichen Einnahmen und Gewinne« fand große internationale Resonanz.

* Berechnet nach den Daten für die Zeit von Oktober 1941 bis September 1943 in Klaus Drobisch: Die Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte im Flick-Konzern während des zweiten Weltkrieges. Phil. Diss. Berlin 1964, S. 157.

In der Zeit von Juni 2001 bis Juni 2007 wurden insgesamt 4,4 Milliarden EUR an 1,7 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter aus mehr als 100 Ländern ausgezahlt.

Der Initiative zur Gründung der Stiftung waren Sammelklagen ehemaliger Zwangsarbeiter in den USA vorausgegangen. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder unterstützte zunächst die firmenübergreifende Initiative, einen freiwilligen Fonds zu schaffen, der im Gegenzug das Ende aller Entschädigungsverfahren vor US-Gerichten bedeuten sollte. Statt des »freiwilligen Fonds« gab es schließlich das Stiftungsgesetz mit dem Titel »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft«.

Thomas Kuczynski, Brosamen vom Herrentisch. Hintergründe der Entschädigungszahlungen an die im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitskräfte, Berlin 2004

Was ich hier in Mark und Pfennig berechnet habe, ist eine Schätzung. Sie ist viel zu ungenau, da sie auf den wenigen Daten beruht, die der historischen Forschung geradezu versehentlich zur Verfügung stehen. Denn zu dem Zeitpunkt, als ich das Gutachten schrieb, galt immer noch, was der Historiker Ulrich Herbert schon vor fünfzehn Jahren geschrieben und 1999 unverändert nachgedruckt hatte: »Die wichtigsten Bestände […] liegen sicherlich in den Werksarchiven; hier aber waren alle Türen zu […]. Bei insgesamt etwa 40 Anfragen an deutsche Betriebsarchive erhielt ich [mit zwei Ausnahmen] ausschließlich Absagen.« Dass die Lage heute, wo die Verhandlungen abgeschlossen sind, in manchen, nicht allen, Firmen eine andere ist – ein Schelm, der Arges dabei denkt …

Am 31. Oktober 1999 übersandte ich der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts in Bremen mein Gutachten Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im »Dritten Reich« auf der Basis der damals erzielten zusätzlichen Einnahmen und Gewinne. Das Gutachten war für eine Gruppe von Anwälten aus München und New York bestimmt, die unter anderem Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeitskräfte vertrat und deshalb von der Stiftung beraten wurde.

Die bei allen Entschädigungsverhandlungen zu erhebende Grundforderung hatte in aller Deutlichkeit der im Dezember 1999 verstorbene Hans Frankenthal formuliert, ehedem als KZ-Häftling beim Aufbau des Buna-Werkes der IG Farben in Auschwitz eingesetzt, als er sagte: »Den ehemaligen Sklavenarbeitern steht zumindest der bis heute nicht ausbezahlte Arbeitslohn zu.« Es ging also nicht um irgendwelche »moralischen Gesten«, die der deutsche Staat und die deutsche Wirtschaft meinten, sich aus einer sog. historisch-moralischen Verantwortung leisten zu müssen, sondern allein um die Rückzahlung vorenthaltener Löhne, um nichts anderes.

In meinem Gutachten hatte ich nachgewiesen, dass den etwa 14 bis 15 Millionen Zwangsarbeitskräften, die nach Deutschland verschleppt und in deutschen Wirtschaftsunternehmen eingesetzt wurden, rund 16 Milliarden Reichsmark vorenthalten worden sind, also umgerechnet etwa 180 Milliarden D-Mark.

180 Milliarden DM – zur Relativität einer Zahl

Dies Resultat meiner Untersuchungen hatte manche erschrocken. Nun waren die berechneten 180 Milliarden in der Tat nicht ganz wenig. Aber es waren auch nicht unvorstellbar viel – wenn man sich beispielsweise in Erinnerung ruft, dass zur selben Zeit der Mannesmann-Konzern von Vodafone für insgesamt 400 Milliarden D-Mark übernommen worden war. Wer bereit und in der Lage ist, im Kampf um die Übernahme eines (!) Konzerns Beträge von 400 Milliarden zu zahlen, ist theoretisch und vor allem auch praktisch in der Lage, 180 Milliarden an Entschädigungen zu zahlen. Insofern hätten die Zahlungspflichtigen auch nicht behaupten sollen, sie könnten nicht zahlen. Ihre Behauptung hätte wahrheitsgemäß lauten müssen: Wir wollen nicht zahlen. Alles andere war Heuchelei.

Wem die 180 Milliarden trotzdem noch »unvorstellbar viel« erschienen, hätte sich eine zweite – diesmal historische – Zahl vor Augen halten können, eine Zahl, die wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen müssen: Insgesamt wurden während des Zweiten Weltkriegs etwa 14 bis 15 Millionen Menschen nach Deutschland verschleppt und zur Arbeit in deutschen Wirtschaftsunternehmen gezwungen – KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zivilpersonen aus den okkupierten Ländern. Teilen wir die 180 Milliarden auf diese 14 bis 15 Millionen auf, so ergibt sich ein durchschnittlicher Entschädigungsanspruch von knapp 12.500 D-Mark pro Kopf. Dieser Betrag war nur wenig höher als jener von 10.000 D-Mark, der von den Anspruchsberechtigten selbst als Minimum des Anstands angesehen worden war.

Beispiel Zwangsarbeit bei Daimler-Benz

Aus Akten des Flick-Konzerns, nämlich den für 1941-1943 überlieferten Lohnkalkulationen, ist zu ersehen, dass der »deutsche Stammarbeiter« den Konzern damals 2842,20 Reichsmark brutto pro Jahr kostete. Zwangsarbeiter dagegen kosteten den Konzern 1899,84 Reichsmark pro Jahr – also 942,36 Reichsmark weniger; anders ausgedrückt: Drei Zwangsarbeiter kosteten ihn so viel wie zwei Stammarbeiter*. Hielt jemand die Tortur der Zwangsarbeit fünf Jahre lang durch, so sparte der Konzern allein an dieser einen Person 4.711,80 Reichsmark an Lohnkosten ein.

Ich weiß nicht, wie viele Zwangsarbeitskräfte Flick insgesamt beschäftigt hat. Aber in einer von Daimler-Benz selbst veranlaßten Studie über die in diesem Konzern geleistete Zwangsarbeit, die 1994 veröffentlicht worden ist, finden wir wenigstens Daten über die Belegschaft von Daimler-Benz, das damals ja ein Teil des Flick-Konzerns war. Im Durchschnitt der Jahre 1940-1944 hatte Daimler-Benz knapp 70.000 Beschäftigte, davon über 45.000 Deutsche und Österreicher. Der Rest, 23.733 Personen, waren KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und zivile Ausländer – die Masse davon Zwangsarbeiter.

Wenn nun durch den Einsatz einer Zwangsarbeitskraft in fünf Jahren knapp 5000 Reichsmark gespart werden können – wieviel hat der Konzern dann durch den Einsatz von über 20.000 Zwangsarbeitskräften in fünf Jahren eingespart? Hundert Millionen – präziser 111,826 Millionen Reichsmark.

Das ist aber nur die eine Seite, denn was die Firma eine Arbeitskraft brutto kostet, ist ja nicht das, was diese Arbeitskraft netto auf die Hand kriegt. Da gehen die Beiträge ab für die Versicherung und die Lohnsteuer. Damals waren das für die westeuropäischen Zivilarbeitskräfte etwa 15 Prozent, für die polnischen gab es zusätzlich eine sogenannte Sozialausgleichsabgabe, so dass sie insgesamt 30 Prozent zu zahlen hatten, und für die sowjetischen eine sogenannte Ostarbeiterabgabe in Höhe von etwa 45 Prozent. Das floss alles in die Taschen der Versicherungskonzerne und in die Staatskasse.

Natürlich, Steuern und Beiträge mussten auch die deutschen Arbeitskräfte zahlen, aber die hatten wenigstens teilweise etwas davon: Sie bekamen damals Krankengeld, was bei vielen ausländischen nicht der Fall war; sie bekommen heute Rente, was bei kaum einer ausländischen der Fall ist; sie haben damals mit ihren Steuergroschen den Krieg eines von ihnen größtenteils gewollten und gestützten Regimes mitfinanziert, wogegen die ausländischen faktisch gezwungen wurden, den Krieg gegen ihre eigenen Heimatländer mitzufinanzieren.

Rechnen wir nur, dass den Zwangsarbeitskräften im Schnitt 25 Prozent an überhöhten Steuern und Abgaben abgezogen wurden, so sind das in fünf Jahren weitere 2.374,80 Reichsmark pro Kopf, auf die Gesamtzahl der bei Daimler-Benz eingesetzten Zwangsarbeitskräfte 56,362 Millionen Reichsmark.

Der den Zwangsarbeitskräften vorenthaltene Geldbetrag summiert sich somit auf 168,188 Millionen Reichsmark oder auf 1.417,32 Reichsmark pro Kopf und Arbeitsjahr, von denen zwei Drittel der Daimler-Benz-Konzern einsteckte und ein Drittel in den Taschen der Versicherungskonzerne und der Staatskasse landeten.

Aber die wenigsten unter den Zwangsarbeitskräften haben fünf Jahre in deutschen Wirtschaftsunternehmen gearbeitet. Viele kamen vor Ende des Krieges um oder wurden umgebracht, viele wurden erst in späteren Kriegsjahren nach Deutschland verschleppt. Wir müssen davon ausgehen, dass die etwa 14 bis 15 Millionen Zwangsarbeitskräfte, die nach Deutschland verschleppt und in deutschen Wirtschaftsunternehmen eingesetzt wurden, insgesamt 21,385 Millionen Jahre gearbeitet haben, im Durchschnitt pro Kopf also anderthalb Jahre. Nehmen wir also an, dass auch bei Daimler-Benz die Zwangsarbeitskräfte im Durchschnitt anderthalb Jahre eingesetzt und dann durch andere ersetzt worden waren, so beträgt der ihnen in anderthalb Jahren vorenthaltene Geldbetrag 2125,98 Reichsmark pro Kopf. Das ist fast der Jahresnettolohn eines »deutschen Stammarbeiters« bei Flick, denn der betrug damals 85 % des Bruttolohns, also 2415,87 Reichsmark.

Die Frage war natürlich auch, wie in Reichsmark vorenthaltene Löhne in D-Mark umzurechnen sind. Um es ganz deutlich zu machen: Für den Jahresnettolohn, den ein »deutscher Stammarbeiter« bei Flick während des Krieges erhielt (2415,87 Mark), hat im Jahre 1999 ein Facharbeiter bei Daimler-Chrysler weniger als einen Monat gearbeitet. Es wäre also höchst unwürdig und geradezu lächerlich gewesen, die einbehaltenen Löhne und Steuern im Verhältnis 1:1 umzurechnen. Als Kompromißvariante hatte ich in meinem Gutachten vorgeschlagen, einen Umrechnungsfaktor von 1:11,121 anzusetzen. Dann wären der einzelnen bei Daimler-Benz eingesetzten Zwangsarbeitskraft im Durchschnitt 23.643,02 D-Mark nachzuzahlen gewesen. Auf die Gesamtzahl der eingesetzten Zwangsarbeitskräfte umgerechnet, hätten Konzern und Staatskasse 1.870,419 Millionen D-Mark insgesamt zu zahlen gehabt, zwei Drittel der Konzern und ein Drittel die Staatskasse.

Wer nun rückblickend meint, eine Forderung von 1.243,617 Millionen D-Mark an den Konzern hätte ihn in den Bankrott getrieben und Arbeitsplätze gefährdet, sei daran erinnert, dass Daimler-Chrysler 1998 einen Gesamtgewinn von über zehn Milliarden D-Mark erzielt hatte. Für eine anständige Entschädigung hätte der Konzern also sechs Wochen Gewinn zu verwenden gehabt. Das hätte ihn nicht in den Bankrott getrieben und auch keinen Arbeitsplatz gefährdet, es hätte ein wenig die Dividende der Aktionäre geschmälert und die nächsten Großfusionen vielleicht um ein paar Monate verzögert. Das wäre aber auch schon alles gewesen.

Warum zahlte die deutsche Wirtschaft?

Sicherlich, einige wenige Mitglieder der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft haben sich ehrlichen Herzens dafür eingesetzt, dass ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eine Entschädigung für den ihnen vorenthaltenen Lohn erhalten; vielleicht sind es sogar ein paar mehr als jene »Kollegen«, die sich in der Nazizeit für eine menschliche Behandlung der damaligen Zwangsarbeitskräfte verwendet und auch einige vor dem sicheren Tode gerettet haben. Von diesen rühmlichen Ausnahmen soll hier nicht die Rede sein, vielmehr von dem regelhaften Verhalten der großen Masse.

Die Stiftungsinitiative zahlte jämmerlich wenig, zögerte die Zahlungen so weit als irgend möglich hinaus, wollte für die Verzögerung sogar noch einige hundert Millionen DM Zinsen einstreichen, ließ sich ihre Einzahlungen zur Hälfte von der Steuer rückerstatten, versuchte die ehemaligen Zwangsarbeitskräfte aus Polen um Teile der Entschädigungszahlungen zu betrügen durch den massenhaften, daher kurssenkenden Umtausch von DM in Zloty usw. usf. Aber sie zahlte. Sie zahlte – zu wenig, zu spät, reuelos, würdelos, kleinlich berechnend, krämerhaft nachrechnend. Aber sie zahlte. Warum?

Zunächst haben ja die herrschenden Kreise in der alten BRD die fälligen Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeitskräfte sehr erfolgreich hintertrieben. Zwar nicht endgültig, aber doch auf lange Zeit gebannt wurde die Gefahr durch das 1953 verabschiedete Londoner Schuldenabkommen. Dort hat die Bundesregierung mit den Regierungen von 33 Staaten, die sich 1945 im Kriegszustand mit Deutschland befanden, vereinbart, dass zunächst nur Vorkriegsschulden sowie Nachkriegsverbindlichkeiten zu begleichen seien, wogegen die Prüfung der aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden Forderungen bis zur im Rahmen eines Friedensvertrages erfolgenden »endgültigen Regelung der Reparationsfrage« zurückgestellt wurde; gleiches galt für Forderungen von Privatpersonen aus diesen Ländern »gegen das Reich und im Auftrage des Reichs handelnde Stellen und Personen«.

Da der Bundesgerichtshof 1963 entschied, dass die IG Farben, von einem ehemaligen KZ-Häftling aus Polen auf Entschädigungszahlung verklagt, »eine im Auftrag des Reichs handelnde Stelle oder Person« gewesen sei, war der Kreis geschlossen und jede ausländische Zwangsarbeitskraft von einer Entschädigungszahlung ausgeschlossen, jedenfalls bis zum Tag eines Friedensvertrages. Der schien damals in weiter Ferne, und »natürlich« war kaum eine Firma oder Behörde daran interessiert, durch Eigeninitiative diese vorteilhafte Regelung zu unterlaufen und von sich aus Entschädigungen zu zahlen.

Jedoch, dies sei hier schon eingefügt, auch für die DDR waren Entschädigungszahlungen an ausländische Zwangsarbeitskräfte kein Thema, allerdings aus anderen Gründen. Da in der Sowjetunion all jene, die Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit im faschistischen Deutschland überlebt hatten, nach ihrer Repatriierung als der Kollaboration verdächtig im GULag verschwanden, hätte sich die DDR-Führung, selbst wenn sie das gewollt hätte, nicht für Zahlungen an sowjetische Opfer einsetzen können; dementsprechend unterblieben auch Zahlungen an Opfer aus anderen osteuropäischen Staaten.

Die Situation änderte sich grundlegend mit dem Abschluß des 2+4-Vertrages, der, obgleich nicht so genannt, allgemein als Äquivalent für einen Friedensvertrag gewertet worden ist. Damit standen all die Fragen, die im Londoner Schuldenabkommen ausgeklammert worden waren, erneut auf der Tagesordnung. Allerdings wurde der veränderten Lage von den allermeisten der Verantwortlichen in Regierung und Justiz, in den Kommunen und ihren Behörden, in den Firmen und den Unternehmerverbänden in der Weise Rechnung getragen, dass sie weiter alle Verpflichtungen von sich wiesen und, wo das nicht möglich, möglichst geringfügige Zahlungen leisteten; Ausnahmen bestätigen nur die Regel.

Erst die ökonomischen Folgen, die im Ausland angestrengte Gerichtsverfahren hätten nach sich ziehen können, bewogen die herrschenden Kreise, eine neue Strategie für die Durchsetzung der alten Ziele zu entwickeln. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass die deutsche Wirtschaft und ihre Regierung sich überhaupt erst an den Verhandlungstisch bequemten, als deutschen Unternehmen sogenannte Sammelklagen (»class acts«) aus den USA drohten. Was da unter Umständen auf sie zukommen würde, konnte die deutsche Seite von der amerikanischen Zigarettenindustrie lernen, die im Ergebnis eines solchen Prozesses etwa zweihundert Milliarden Dollar (also rund 400 Milliarden Mark) an Klägerinnen und Kläger zahlen mußte. Die Zahlung derartiger Strafgelder kann in der Tat selbst ein superreiches Unternehmen in den Ruin treiben. Deshalb war auch das erste Wort, das Bundeskanzler Gerhard Schröder in diesem Zusammenhang aussprach, Rechtssicherheit – Rechtssicherheit nicht etwa für die Entschädigung beanspruchenden Opfer, sondern für die deutsche Wirtschaft und ihre Konzerne. Für diese Rechtssicherheit, und nur für sie, waren Staat und Wirtschaft bereit zu zahlen, notfalls auch an ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.

Die deutsche Wirtschaft hat es sehr gut verstanden, mit der Frage der Entschädigung für Zwangsarbeit gleich alle anderen Entschädigungsfragen kostengünstig zu erledigen. Denn von den auszuzahlenden zehn Milliarden DM kommen ja nur gut acht den ehemaligen Zwangsarbeitskräften zugute, der »Rest« dient der Entschädigung für »arisierte« Vermögen und nicht ausgezahlte Lebensversicherungen (sowie dem Aufbau des so genannten »Zukunftsfonds«), also für Verbrechen, die vor allem an ehemals »deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens« verübt worden sind. Deren Interessenvertreter – und nicht einfach »die« jüdischen Anwälte und Organisationen, wie die deutsche Presse nahezu einhellig berichtete und damit den »normalen Antisemitismus« bediente – hatten daher ihren ganzen Einfluß geltend gemacht, ein möglichst großes Stück vom Kuchen zu bekommen; auch ihnen war das Hemd näher als der Rock.

Über diese Entschädigungen war jahrelang gesondert in der Eagleburger-Kommission verhandelt worden, mit durchaus günstigem Ergebnis für die deutsche Wirtschaft; so zahlte beispielsweise die Deutsche Bank als Entschädigung eine Mrd. DM an die Jewish Claims Conference und erkaufte sich auf diese Weise ihren durch Fusion mit Bankers‘ Trust erreichten Einstieg in den amerikanischen Bankenmarkt. Nun wurden diese Zahlungen einfach mit denen für Zwangsarbeit in einen Topf geworfen – damit der Topf seine »richtige« Größe hatte und alle Seiten der Öffentlichkeit gegenüber ihr Gesicht waren konnten.

Natürlich wollte die deutsche Seite möglichst billig davon kommen; zunächst war sie zur Zahlung von einer Mrd. DM bereit. Die Gegenseite präsentierte zunächst Forderungen in Höhe von 28 Mrd. Dollar (etwa 60 Mrd. DM). Mit diesen Summen wurde gepokert, denn irgendwelche begründete Schätzungen lagen weder der einen noch der anderen Summe zugrunde, und die einzige dazu vorgelegte blieb unberücksichtigt. In zähen Verhandlungen näherte man sich einander an: Zweistellig mußte die Summe sein, sonst hätten die Anwälte vollends ihr Gesicht verloren, zweistellig durfte sie von deutscher Seite dann und nur dann sein, wenn mit Vertragsabschluß alle Forderungen endgültig vom Tisch sind. Auf dieses Geschäft ließ sich die deutsche Seite ein, erfreut, weil die Vergangenheit nun endlich »bewältigt« schien, unwillig, weil »zu teuer«.

Um es noch einmal klarzustellen: Es ging keinesfalls darum, dass die Erben der deutschen Verbrecher nicht hätten zahlen können. Die ausgehandelte Gesamtsumme von zehn Milliarden Mark war so lächerlich gering, dass sie allein aus den diversen Portokassen der deutschen Industrie hätte beglichen werden können. Das wußte auch die »Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft«, denn sie selbst forderte von ihren Mitgliedern einen Mindestbeitrag von einem Tausendstel (!) des Jahresumsatzes.

Auch in anderer Hinsicht war die Summe lächerlich gering. Die 2,5 Milliarden DM, die die deutsche Privatwirtschaft faktisch gezahlt hat, entsprechen nämlich ungefähr der Summe, die die Schweizer Banken im Nachhinein für ihren Handel mit Naziraubgold zahlen mußten. Man muß kein Freund der »Gnome von Zürich« sein, um zu erkennen, dass hier mit zweierlei Maß gemessen worden ist: Nicht die Schweiz hat mehr als halb Europa ausgeraubt, sondern das zehn Mal so große Deutschland, aber allein ihre Banken haben dasselbe gezahlt wie die gesamte deutsche Privatwirtschaft. Die Großmacht Deutschland hat sich eben in ganz anderer Weise gegen berechtigte Ansprüche stellen und durchsetzen können als die Schweiz. Jedoch, die deutschen Konzerne und ihre Regierung haben nicht im luftleeren Raum agiert.

Zur Haltung der Bevölkerung

Das Thema Zwangsarbeit reflektiert ein durch und durch gesamtdeutsches Problem und zwar aus drei Gründen. Erstens sind die 14 bis 15 Millionen Zwangsarbeitskräfte, die während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland verschleppt wurden, in allen Regionen des Landes und in allen Lebensbereichen eingesetzt gewesen, nicht nur in der Rüstungsindustrie, sondern auch in der Landwirtschaft, in den kommunalen Betrieben der Städte und Gemeinden, in den privaten Haushalten – bis hin zur »Zwangsarbeit im Kinderzimmer«. Zweitens wurden bis 1990 in keinem der beiden deutschen Staaten – weder in der Alt-BRD noch in der DDR – ernsthafte Anstrengungen unternommen, für eine Entschädigung jener Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu sorgen, die nach dem Kriege (wieder) im Ausland lebten bzw. dorthin auswanderten. Drittens war der ganz überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern kaum daran interessiert, wenigstens 55 Jahre nach Kriegsende, sich aktiv für anständige und schnelle Entscheidungen auf diesem Gebiet einzusetzen.

Niemals hätten die deutschen Konzerne und ihre Regierung mit einer solchen Unverfrorenheit vorgehen können, wäre ihnen in diesem Lande eine qualifizierte Bevölkerungsminderheit – ich rede gar nicht von einer Mehrheit – mit der Erklärung entgegengetreten: Schluß jetzt mit diesem würdelosen Gezerre auf Kosten der Opfer, diese verdammte Industrie soll endlich zahlen. Aber es war eine verschwindende Minderheit, die so dachte und es dann auch noch sagte. Die ganz überwiegende Mehrheit wollte endlich einen »Schlusstrich unter die Vergangenheit«, sie sagte: Was kann ich für das, was meine Eltern oder Großeltern getan haben … So gern sie das vom Großvater gebaute Haus erben – sofern es schuldenfrei ist -, so ungern treten sie das historische Erbe an, das ihnen ihre Eltern und Großeltern in Gestalt unbezahlter Rechnungen, darunter nicht gezahlter Entschädigungen, hinterlassen haben.

Diese nahezu vollständige Abwesenheit antifaschistischen Bewußtseins in der deutschen Bevölkerung war es, die den deutschen Konzernen und ihrer Regierung ein derartiges Vorgehen ermöglichte. Dabei scheint das Interesse an dem Thema in den neuen Bundesländern noch geringer gewesen zu sein. Eine persönliche Erfahrung mag als Beleg dienen: Wegen des von mir erstatteten Gutachtens war ich zu knapp zwanzig Diskussionsveranstaltungen eingeladen; davon fand die eine Hälfte in Berlin statt (Ost und West etwa gleich verteilt), die andere Hälfte in den alten Bundesländern und keine einzige in den neuen.