Von Zeiten und Menschen

geschrieben von Ernst Antoni

5. September 2013

Ernst Schumachers Aufzeichnungen von 1945 bis 1991

Mai-Juni 2010

Ernst Schumacher, Ein bayerischer Kommunist im doppelten Deutschland, 2007, br., ISBN 978-3-486-58361-8, Biographische Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 24, Oldenbourg Wissenschaftsverlag München, 720 S., 69,80 Euro

»Freitag, den 20. März 1953: Ich stand mit einem der alten Wachtmeister, die schon seit mehr als 30 Jahren in Stadelheim sind, am Fenster und schaute in den Hof. Ich wies auf das flach gedeckte Gebäude neben dem Ostflügel des Altbaues, in dem die Guillotine stand, mit der der Scharfrichter Reichart während der Kriegsjahre fast jede Woche mehrere Gefangene enthauptete. ‚Da sind sie hingerichtet worden, die Antifaschisten, nicht wahr Herr Wachtmeister?‘ Er sah mich schräg an und nickte: ‚Ja, da hat der Reichart gehaust (…)‘. ‚Und dort hinten, auf dem Perlacher Friedhof, sind die meisten, vor allem die Ausländer, wie die räudigen Hund‘ verscharrt worden?‘ wollte ich mein Wissen bestätigt sehen. ‚Ja, da hat man sie eingegraben.‘ Der Wachtmeister sah mich an und fragte: ‚Haben sie Bekannte dabei gehabt, weil sie gar so fragen?‘ ‚O ja, gewiss‘, erwiderte ich. Waren sie etwa nicht sogar mehr als Bekannte, die Genossen Olschewski und Binder, die Geschwister Scholl und ihr Gefährte Graf und die vielen anderen, die hier wegen ihrer antifaschistischen Gesinnung vom Leben zum Tod gebracht wurden, oft nach blutigen und gemeinen Misshandlungen durch die Wachtmeister? Konnte ich wissen, ob nicht auch der, der neben mit stand, einer dieser Wachtmeister war?«

Als »Dokument 16« ist das »Stadelheimer Tagebuch (1953)«, aus dem dieses Zitat stammt abgedruckt im 720-Seiten-Werk »Ernst Schumacher, Ein bayerischer Kommunist im doppelten Deutschland. Aufzeichnungen des Brechtforschers und Theaterkritikers in der DDR 1945-1991«, erschienen als Band 24 in der vom Institut für Zeitgeschichte herausgegebenen Reihe »Biographische Quellen zur Zeitgeschichte«. Der Untertitel steht dezent im Widerspruch zum Haupttitel. Den »Brechtforscher« und Theaterkritiker Schumacher gab es bereits, bevor der Autor im Jahr 1962 Bayern nicht übermäßig freiwillig in Richtung DDR verlassen hat – das Münchner Gefängnis Stadelheim, das gefürchtete Zuchthaus aus früherer Zeit, hatte er ja bereits kennen gelernt. Das lässt sich in diesem Buch nachlesen, noch genauer in »Mein Brecht. Erinnerungen«, dem vorletzten Werk des Autors.

»Das vorliegende Buch«, schreibt Herausgeber Michael Schwartz, »ist das Resultat einer Kooperation zwischen dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, das diesen Band herausgibt, und dem Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg (…). Ernst Schumacher glaubte sein privat gesammeltes Wissen über Zeiten und Menschen durch den welthistorischen Umbruch von 1989 entwertet. Dem ist keineswegs so. Dieses Buch, das auf Schumachers Aufzeichnungen aus vier Jahrzehnten basiert, bereichert unsere Kenntnis von der im doppelten Sinne geteilten Geschichte Deutschlands zwischen 1945 und 1990. Es zeigt einen kommunistischen Intellektuellen aus Deutschland im welthistorischen Konflikt zwischen Demokratie und Diktatur, der die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat.«

Leicht machen es uns Verfasser und Herausgeber manchmal nicht, wollen wir uns durch die welthistorischen Konflikte arbeiten. Das liegt unter anderem am Fleiß des Tagebuchschreibers und seinem Lebensweg. Der führte ihn an die Seite manch »Großer« in unterschiedlichen Welten (wir sehen auf Fotos Ernst Schumacher mit Ho Chi Minh, mit Oskar Maria Graf – und dann noch mit vielen, die in Theater, Kultur und Politik in Ost und West eine Rolle spielten). Der Autor hat die Begegnungen festgehalten und kommentiert, oft in konsequenter, schwer zu lesender Kleinschreibung. Und er hat es in seinen Aufzeichnungen wirklich gerecht gehalten mit angeblich wichtigen und weniger wichtigen Leuten. Manches erschließt sich da selbst jenen, die meinen, auch von Letzteren einige zu kennen, nicht auf Anhieb.

»Das bemerkenswert vielseitige Spektrum der Interessen und Beobachtungen Ernst Schumachers zwingt dazu, seine Ausführungen durchgehend zu erläutern.«, heißt es im editorischen Vorwort. »Diesem Zweck dienen die vom Herausgeber beigefügten und zu verantwortenden Fußnoten, die in der Regel knappes Hintergrundwissen zu angesprochenen Sachverhalten und Ereignissen bieten, zuweilen aber auch Zitate aus Texten Schumachers oder anderer Zeitgenossen zur Verfügung stellen, um Anregungen zum Weiter-Fragen und Verknüpfen von Informationen zu geben.«

Nun ja. Wer von den Erläuterungen – der Anmerkungsapparat macht rund ein Drittel der Veröffentlichung aus – erhofft, hier in Wichtiges eingeführt zu werden, sieht sich nicht selten enttäuscht. Wie schon die Einleitung (»der welthistorische Konflikt zwischen Demokratie und Diktatur«) befürchten ließ, geht es den Editoren doch oft darum, eher bloß- als klarzustellen. Auch das hat seinen wissenschaftlichen Reiz. Künftige Historikergenerationen können sich so gleichzeitig an Schumachers zweifellos zeitgebunden parteilichen Notizen und an den oft nicht weniger parteilichen heutigen Herausgeber-Kommentierungen abarbeiten.

Und an manchen Plattheiten: Zum Begriff »Guillotine« im »Stadelheimer Tagebuch« steht allen Ernstes in einer Anmerkung: »Gerät zur Enthauptung von Menschen, seit der Französischen Revolution von 1789 gebräuchlich«.