Was war »1968«?

geschrieben von Arno Klönne

5. September 2013

Arno Klönne über Legenden, Erfahrungen und Resultate

Sept.-Okt. 2008

Professor Dr. Arno Klönne, Paderborn, Jahrgang 1931, Soziologe und Politikwissenschaftler, verfasste unter anderem zu Standardwerken gewordene Studien über Jugend und Jugendwiderstand im »Dritten Reich«. In den 60er-Jahren war er einer der Sprecher der Ostermarschbewegung in der BRD. Bis heute greift Klönne engagiert in gesellschaftliche Auseinandersetzungen ein. Als Person und als Publizist – unter anderem als Mitherausgeber und Autor der Zeitschrift »Ossietzky«.

Die historischen Vorgänge, die sich mit der Chiffre »68« verbinden, sind 40 Jahre danach wieder zum Thema der Erinnerungsarbeit geworden, auch zum Gegenstand massenmedialer Verwertung. Die kommerzielle Beschäftigung mit dem »Ereignis 1968« hat ihre fragwürdigen Seiten – es geht dabei ums Geschäft, um Erfolg in der Aufmerksamkeitskonkurrenz, und da richtet sich der Blick auf »Sensationen«, die dann aber rasch wieder an Marktwert verlieren. So erklärt sich auch, dass Gewaltakte der RAF in der gegenwärtigen publizistischen Behandlung einen Stellenwert zugemessen erhielten, den sie in der geschichtlichen Realität nicht hatten. Und ebenso, dass Selbstanklagen ehemaliger »68er« wie etwa die von Götz Aly ein Maß an Beachtung gefunden haben, das ihrem Sachgehalt keineswegs entspricht – der ist, unter dem Aspekt historischer Forschung, äußerst dünn. Zu erheblichen Teilen mangelt es der aktuellen Rezeption von »1968« an Hinwendung zur Empirie, zur sorgfältigen Vergewisserung der damaligen Verhältnisse, der Ideenwelt und Aktivitäten der handelnden Personen, und zwar in der ganzen Breite, nicht beschränkt auf spektakuläre Abläufe oder einige Medienakteure.

Irreführend ist bereits die gängige Redeweise von »den 68ern«, sie unterstellt eine Homogenität in den Mentalitäten und politischen Anschauungen der historisch Beteiligten, die so nicht bestanden hat. Im folgenden zunächst einige kritische Hinweise zu gegenwärtig auftretenden Lesarten der Geschichte von »1968«.

Angesichts der üblichen Datierung »1968« stellt sich leicht der Eindruck her, die Revolte gegen die herrschenden Weltbilder und Machtstrukturen – im westdeutschen Fall: gegen den »CDU-Staat« als Gesellschaftsformation, sei eine jäh auftretende Eruption gewesen, Fundamentalopposition habe sich sozusagen wie ein politisches Gewitter ereignet.

Diese Lesart ist gewiss wohltuend für manche Akteure, die erst 1967/68 ihre politisierenden Erlebnisse hatten, aber als Kennzeichnung der Gesamtentwicklung, auch in der Alt-Bundesrepublik, trifft sie keineswegs zu.Westdeutschland war auch in der Adenauer-Ära keine Gesellschaft, in der Opposition nicht stattgefunden hätte, selbst wenn man von der »halben« parlamentarischen Oppositionsrolle der SPD absieht. Zu erinnern ist hier an die Arbeiterproteste gegen die Wiederkehr der alten Wirtschaftsherren, gegen die Verweigerung von Mitbestimmung in den Betrieben; an die vielgestaltigen Bewegungen gegen die Wiederbewaffnung; an die Ostermärsche der Atomwaffengegner; an den Protest bei der »Spiegel«-Affäre und an die weit vor 1968 aufgekommene unabhängige kritische Publizistik.

Auch die Proteste gegen den Krieg der USA in Vietnam und gegen die geplanten Notstandsgesetze sind nicht erst 1968 in Gang gekommen und der Sozialistische Deutsche Studentenbund hatte seine wichtigste oppositionelle Zeit vor 1968. Falsch wäre es auch, bei der Frage nach der Existenz von Opposition vor 1968 in Westdeutschland die Linke links von der SPD auszuklammern, also die KPD (ab 1956 illegalisiert), die linkssozialistischen Gruppierungen (Sozialistischer Bund, VUS u. a.) sowie die linke Richtung in den Arbeiterjugendverbänden nicht zu beachten. Alles in allem gab es längst vor dem sogenannten »Studenten-Aufstand« in Westdeutschland ein in sich plurales, der herrschenden Politik von links her entgegentretendes Potential, das im außerparlamentarischen Raum agierte. »1968« schloss daran an, die Hinwendung zur Opposition erweiterte sich, neue Formen des Protests kamen hinzu, die öffentliche« Aufmerksamkeit dafür wurde erheblich größer, Konflikte dramatisierten sich, die Universitäten wurden zu Schauplätzen des Aufbegehrens.

Aber handelte es sich deshalb, wie häufig beschrieben, um eine Studentenbewegung? Eine solche Charakterisierung verabsolutiert einen wichtigen Teil der Thematik und der Trägerschaft von Opposition und lenkt zudem, auf die Bundesrepublik fixiert, von der Internationalität der Bewegung dieser Jahre ab. Revoltiert wurde damals in vielen Ländern, nicht einmal nur in europäischen. Bei allen Unterschieden der Konfliktlage in den betroffenen Gesellschaften lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen: Der Protest gegen kriegerische Gewalt, die Absage an die Machteliten, die Opposition gegen demokratisch nicht legitimierte staatliche Autorität, das Einfordern von Volkssouveränität, das Engagement für unterdrückte soziale Schichten und kolonialisierte Länder. Der Anteil, den Studierende an diesen Revolten hatten, war je nach Nation unterschiedlich, aber auch in Westdeutschland waren an dieser außerparlamentarischen Opposition in großer Zahl Jungarbeiter, Lehrlinge sowie Bürgerinnen und Bürger »reifen Alters« beteiligt, darunter Betriebsräte, Pfarrer, »Hausfrauen« und Rentner.

Ein Blick auf die Fotografien der großen Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze genügt, um sich klarzumachen: Dieser Protest war keine jungakademische Spezialität. Wenn man das zur Kenntnis nimmt und außerdem die Internationalität des Ausbruchs, den die Chiffre »1968« umschreibt, mitbedenkt, lässt sich auch die Legende nicht halten, die Revolte sei in ihrem Kern ein »Familiendrama« gewesen – ein »psychologischer Vatermord«, den bildungsbürgerliche deutsche Söhne an ihren, die Nazivergangenheit beschweigenden Erzeugern begangen hätten. Bei Götz Aly findet sich diese Deutung in einer besonders unsinnigen Variante: Die psycho-mörderischen Söhne hätten dann aber den Naziungeist ihrer Väter übernommen, nur mit linkem Etikett.

Zutreffend ist allerdings, dass die Revolte in der Bundesrepublik unter besonderen, nationalspezifischen historisch-politischen Umständen stattfand: Anders als z.B. in den USA oder in Frankreich handelte es sich hier um eine post-faschistische Gesellschaft, wobei das »post« nicht etwa eine Bewältigung der Vergangenheit bedeutete. Vielmehr saßen in großem Umfange die Mitglieder der Funktionseliten Hitlerdeutschlands wieder in Ämtern und Positionen, die Aufklärung über den Faschismus war nur dürftig entwickelt und ideologische Komponenten desselben wurden weiter tradiert und nun als antikommunistische »Tugenden« präsentiert. Linkes Gedankengut stand im damaligen Westdeutschland unter repressivem Druck; nicht nur Kommunisten waren davon betroffen, wenn es hieß: »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau«. In Deutschland verlief die Frontlinie des Kalten Krieges durch das eigene Territorium, wer in Westdeutschland gegen kapitalistische Machtstrukturen und deren staatliche Stützen oder gegen die regierende Politik in den USA opponierte, stand im Verdacht »die Geschäfte der Sowjets zu besorgen«. Antifaschisten galten in Zeiten der Wehrhaftigkeit beim Kampf der Systeme als »Nestbeschmutzer«.

Jede entschiedene Opposition in der Bundesrepublik musste sich unter diesen Umständen, anders als in den alten Demokratien, erst einmal freien Raum im öffentlichen Diskurs verschaffen. Insoweit ist die Lesart, »1968« habe – ungewollt von vielen oppositionellen Akteuren – eine »Verwestlichung« der deutschen politischen Kultur zuwege gebracht, nicht von der Hand zu weisen. Irreführend ist sie dann, wenn sie den Eindruck nahelegt, der damaligen Opposition sei es im Grunde gar nicht um Kapitalismuskritik gegangen, sondern nur um kulturelle Angleichung an westliche Standards.

Andererseits: Der westdeutschen außerparlamentarischen Opposition wird von manchen Geschichtsdeutern, darunter auch reuigen »Alt-68ern«, ein nahezu völkischer Antiamerikanismus nachgesagt, zu dem auch antisemitische Gefühle gehört hätten. Der politische Lebensweg eines Horst Mahler dient dafür als »Beleg«. Nun ist keine politische Bewegung davor geschützt, dass in ihr Menschen mitwirken, die später zu Irrläufern werde. Einige damalige Stellungnahmen zu Israel oder Palästina verdienten durchaus auch kritisches Nachdenken. Völlig absurd aber wäre die Annahme, für die westdeutsche außerparlamentarische Opposition seien Hassausbrüche gegenüber Israel und USA typisch gewesen, und dies auch noch auf der Grundlage deutschvölkischer oder rassistischer Weltbilder. Die waren vielmehr – offen oder versteckt – weitverbreitet in den politischen Kulturen, gegen die die 68er revoltierten. Damals hatte sich gerade in den Vereinigten Staaten selbst eine entschiedene Kritik US-amerikanischer Regierungspolitik und US-amerikanischer Machteliten entwickelt. Sie war aber nicht »antiamerikanisch«, genauso wenig, wie die Friedensaktivitäten israelischer Bürger »antisemitisch« waren. Beide Bewegungen wirkten anregend auch auf die APO in Westdeutschland.

Schließlich doch noch ein paar Sätze zu der Legende, der Weg in den terroristischen Untergrund sei nichts anderes als eine logische Konsequenz der Ideen von »1968« gewesen. Die »Rote-Armee-Fraktion« war, wie andere, ähnlich ausgerichtete »Kommandounternehmen« auch, Sache einer kleinen Minderheit im Gesamtpotential der Revolte. In solchen Gruppen fanden sich Verzweifelte und bedenkenlose Abenteurer zusammen. Dass auch auf Provokation hinarbeitende Agenten gar nicht linker geheimer Dienste darin eine Rolle spielten, ist am italienischen Fall ansatzweise erforscht. Was die deutsche RAF angeht, so deutete schon ihre Namenswahl auf eine politische Wahnwelt hin. Typisch war dies nicht.

Ernst zu nehmen ist jedoch die Frage, warum in einem Teil des studentischen und literarischen Sektors der westdeutschen Opposition damals Sympathie für die Rede vom »bewaffneten Kampf in den Metropolen« aufkommen konnte. Wer sich damit auseinander setzt, sollte allerdings nicht (wie es manche derzeitige »Abrechnungen mit 1968« tun) folgenden historischen Sachverhalt unterschlagen: Gewaltphantastereien, die dann etwas später in kleiner Anzahl zu terroristischer Praxis führten, haben schon in ihrer Entstehungsphase in der außerparlamentarischen Opposition öffentliche und breite Kritik gefunden. Die große Mehrheit der APO-Aktiven hatte mit dem »bewaffneten Kampf« nichts im Sinn.

Die internationale Gemeinsamkeit des politischen Aufbruchs um 1968 lag darin, dass der Demokratieanspruch bürgerlicher Gesellschaften (und, wenn man an den »Prager Frühling« denkt, auch sozialistischer Gesellschaften) beim Wort genommen wurde und in Realität umgesetzt werden sollte. Die Konfliktkonstellationen bei diesem »Aufbruch« waren bestimmt durch die jeweiligen nationalen Machtstrukturen und historischen Voraussetzungen. Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf die westdeutsche Situation. Seit dem Scheitern der bürgerlichen Revolution 1848/49 waren in Deutschland demokratische Ideale im wesentlichen nur in der Arbeiterbewegung tradiert worden. Der deutsche Nationalstaat war 1871 von oben her, unter feudaler Regie und als »Kriegsgewinn« zustande gekommen, der Liberalismus war nationalautoritär gezähmt, der politische Konfessionalismus hatte überwiegend eine obrigkeitsstaatliche Prägung. Das veränderte sich auch in der Weimarer Republik nur in geringem Umfange; im »bürgerlichen Lager« stand nur eine kleine Minderheit bei den Liberalen und eine etwas größere bei der katholischen Zentrumspartei zuverlässig auf der Seite demokratischer Politikvorstellungen. Das NS-Regime unterdrückte dann nicht nur die Arbeiterbewegung und die minoritären bürgerlich-demokratischen Traditionen, es wirkte auch mentalitätsgeschichtlich destruktiv. Unter den Bedingungen von Diktatur und Krieg musste der Gedanke an freie öffentliche Meinung und selbstbewusste Ausübung von Grundrechten wie ein abseitiger Traum erscheinen. Als mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik ein verfassungspolitischer Rahmen für demokratisches Verhalten geschaffen war (wenn auch rasch wieder eingeschränkt durch Maßnahmen des Kalten Krieges), mussten politische Bürgerrechte erst einmal durch Praxis »eingeübt» werden, was durchaus keine freudige Mithilfe der westdeutschen Machteliten in Wirtschaft und Politik fand. Insofern war »1968« eine Wegstrecke in einem schon vorher begonnenen, von vielen Barrieren erschwerten demokratischen Lernprozess.

Bei der »Paulskirchenbewegung« und bei »Kampf dem Atomtod« hatte der SPD-Vorstand sich in außerparlamentarischen Aktivitäten versucht, aber bald schon Angst vor der eigenen Courage bekommen. Er nahm Abstand von solchen Bewegungen und schloss sich, zur Überraschung der Parteimitglieder, dem außen- und rüstungspolitischen Kurs Adenauers an. Gegen den Willen der SPD-Führung kam die unabhängige Ostermarschbewegung in Gang, die sich dann; »Kampagne für Demokratie und Abrüstung« nannte; sie bewährte sich vor 1968 als innovative Form außerparlamentarischer Opposition mit großer Beteiligung, als bundesweite Bürgerinitiative mit Masseneinfluss.

Diesem standen aber auch innere Probleme auf der Seite der Linken im Wege. Die KPD war eine Organisation, in der Kaderpolitik den Ton angab, eine Ausrichtung, die naheliegender Weise durch die Illegalisierung noch verstärkt wurde. Zudem war die westdeutsche Partei zunehmend von jeweiligen Interessen der SED-Führung dirigiert, was die Souveränität der Mitgliedschaft lähmte. Die SPD wiederum war, ihrer Tradition aus der Vergangenheit folgend, auf Stellvertreterpolitik fixiert. Für sie hatte Opposition, wenn sie schon sein musste, ihren Platz in den Parlamenten. »Parteisoldaten« galten der SPD als Mustermitglieder, und wenn eine »Truppe« nicht im Gleichschritt blieb, wie Anfang der 1960er-Jahre der parteinahe SDS, wurde sie verstoßen.

Die Ostermarschbewegung bildete schließlich die Ausgangsstellung für die Proteste gegen den Vietnamkrieg und gegen die Notstandspläne, auch gegen die NPD, damals eine Mixtur von Schwarzweißrot und Braun, die sich in den westdeutschen Landtagen ausbreitete. An dieser Stelle sei eine Erfahrung erwähnt, die auf ein Problem der Revolte von »1968« in der Bundesrepublik hindeutet: Anders als bei der außerparlamentarischen Opposition in den Jahren zuvor wurde bei den eher studentisch geprägten Auftritten Ende des 1960er-Dezenniums der Neofaschismus à la NPD kaum zum Thema gemacht. Der Begriff Faschismus wurde nun vielfach so ausgedehnt, dass er auch die damalige Herrschaftsform des »Bonner Systems« treffen sollte. Mitunter wurde gar argumentiert, ein noch verdeckter Faschismus beim »Establishment« müsse dazu provoziert werden, offen hervorzutreten – dann erst könne er wirklich bekämpft werden.

Auf riskante (und historisch kenntnislose) Weise wurde dabei die Differenz zwischen einem autoritär-bürgerlichen Staat und einer faschistischen Gesellschaft vernachlässigt. Der Spruch »Kapitalismus führt zum Faschismus« enthielt den zutreffenden Hinweis auf einen historischen Wirkungszusammenhang und eine Gegenwartsgefahr, irreführend war er als Bild einer zwangsläufigen Abfolge oder gar einer Identität.

Was hat »I968« beigetragen zur Auseinandersetzung mit der hitlerdeutschen Vergangenheit? Nicht haltbar ist die in der Literatur häufig zu findende Einschätzung, erst mit einer »studentenbewegten Empörung über die Elterngeneration« habe in der deutschen Gesellschaft die Aufklärung über den historischen Faschismus begonnen. Längst vor 1968 gab es – meist konfliktreiche – Aktivitäten in dieser Sache, intensive Versuche, aus der gesellschaftlichen Opposition heraus die Geschichte der faschistischen Machtdurchsetzung, die Staatsverbrechen des NS-Regimes und deren Akteure, aber auch die Geschichte des antifaschistischen Widerstandes zum Thema zu machen und die öffentliche Frage zu stellen, weshalb diese Vergangenheit in der Bundesrepublik weithin »beschwiegen« werde. An die aufklärende Arbeit der VVN ist hier zu erinnern, ebenso an viele andere Initiativen, für die hier beispielhaft die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« von Reinhard Strecker zu nennen ist, ferner die publizistischen Bemühungen oppositioneller Zeitschriften wie »Argument«, »werkhefte«, »pläne«, all das vor der »Revolte«. Allerdings hat »1968« (trotz der oben erwähnten fragwürdigen Dehnung des Verständnisses von Faschismus) dem kritischen Umgang mit der deutschen Zeitgeschichte erheblich mehr öffentlichen Raum verschafft, das »Beschweigen« hatte danach kaum noch Chancen, auch nicht im akademischen Terrain.

»1968« bedeutete in der Bundesrepublik den Durchbruch fundamentaler Opposition in die massenmediale Berichterstattung; das brachte teils rüde Diffamierung (vor allem in der Springer-Presse), teils Interesse an dem Innovativen der »Revolte« mit sich. Die Aufgeregtheit der Massenmedien hing sicherlich auch damit zusammen, dass nun auch bildungsbürgerlicher Nachwuchs revoltierte. Die massenmediale Zuwendung enthielt eine Falle für die »68er«: nämlich die, sich praktisch den Bedürfnissen und Regeln eines Gewerbes anzupassen, das in der Theorie als kapitalistisch entfremdend galt. Die Fähigkeit der Kommerzgesellschaft, kulturrevolutionäres Aufbegehren zum eigenen Nutzen zu verarbeiten«, wurde in Teilen der APO unterschätzt, generell wurde der »Spätkapitalismus« (ein Begriff, der in der Linken Illusionen nährte) für brüchiger gehalten, als er war. Zu solchen Illusionen trug auch die um und nach 1968 auftretende romantisierende Identifizierung mit geographisch oder historisch weit entfernten, tatsächlich revolutionären Aktionen oder Akteuren bei, die sich mitunter in subkulturellen »Revolutionskonsum« umsetzte. Die Begeisterung für Fidel, Che, Ho und Mao war nur zu oft ungetrübt von näheren Kenntnissen, und lenkte ab vom Blick auf die Realität in der eigenen Gesellschaft.

Es gibt keinen vernünftigen Grund, »1968« in all seinen Erscheinungen für ein gesellschaftspolitisch zu bejubelndes Ereignis zu halten. Aber bei allen Problemen, die in dieser Bewegung auftraten – sie brachte einen historischen Schub von links her mit sich, der – wenn wir den Fall Bundesrepublik nehmen – demokratische Traditionen, Mentalitäten und Praktiken kräftig belebte und förderte. Methodisch: Der verengte Begriff von Demokratie, wonach -diese durch Parlamentarismus und Parteienkonkurrenz schon garantiert sei, wurde korrigiert. Zahllose Menschen, gerade auch junge, lernten selbständiges politisches Engagement, entwickelten unkonventionelle Formen persönlicher Intervention in das gesellschaftliche Geschehen, übten sich in der Auflehnung gegen autoritäre Strukturen. Höchst anregend war dies für eine Fülle von Bürgerinitiativen, für die neue Frauenbewegung, für die Ökologiebewegung; belebend war es für betriebliche und gewerkschaftliche Aktivitäten. Die neue grüne Partei wäre ohne »1968« nicht erfolgreich geworden; inzwischen hat sie dieses Erbe weitgehend verschleudert.

Die literarische Begleitung von »1968« (exemplarisch sei Hans Magnus Enzensberger genannt) wies manche Fragwürdigkeiten auf. Kritischer Reflexion bedarf auch die Erfahrung, dass sich in der Nachfolge von »1968« bei nicht wenigen Aktiven die antiautoritäre Rebellion in Eifer bei der Gründung neuer »Kaderparteien« mit mehr oder weniger absurder Programmatik und teils exotischen Vorbildern verwandelte, von Albanien bis Nordkorea reichend. Mit der reklamierten historisch-materialistischen Sichtweise hatten solche Zuneigungen offensichtlich nichts zu tun.

»Mehr Demokratie wagen!« Ohne die APO hätte Willy Brandt mit diesem Spruch ins Leere geredet, und deren Impulse sind für eine Weile auch der SPD zugute gekommen. Thematisch: »1968« hat, trotz mancher Verwerfungen, den Blick auf zerstörerische Folgen kapitalistischer Interessenmacht geschärft, linke theoretische Arbeiten aus der Vergessenheit geholt, die Auflehnung gegen militaristische Politik bestärkt, den hiesigen gedanklichen Horizont in Richtung auf Probleme der Dritten Welt erweitert. Intensiver wurde durch »1968« auch die Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit Deutschlands. Dieser historisch produktive Ertrag der Bewegung vor, um und nach 1968 ist aber keineswegs bestandsfest gewesen. Die Geschichte ist weitergegangen, Errungenschaften können wieder verloren gehen, Menschen können sich wandeln.

Bemerkenswert ist hier nur am Rande, dass aus manchen Wortführern der damaligen Revolte prominente Vertreter des »Establishments« geworden sind; solche Bekehrungen sind in der Historie nichts Neues. Wichtiger ist: Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse hierzulande haben sich in einer Weise verändert, die »1968« nicht erwartet worden ist. Wer von den revoltierenden Studenten damals hätte damit gerechnet, dass die Universitäten zu Filialen der Konzerne würden? Wer von den Ostermarschierern damals hatte ernsthaft erwartet, dass die Bundesrepublik sich an einem Krieg gegen Belgrad beteiligen würde? Wer von den Kritikern des »Spätkapitalismus« damals hätte vorausgesehen, dass die Wirtschaftselite sich daranmachen würde, den Sozialstaat wegzuräumen? Und wer hätte, die politischen Kulturen betreffend, damals mit »national befreiten Zonen« im deutschen Alltag gerechnet? Von einem »Sieg der 68er« wie ihn manche Interpreten der Geschichte rühmen, andere beklagen, kann keine Rede sein. Eine Feststellung, die keinen Grund gibt zur Resignation, wohl aber zum Umdenken und Handeln.