Was weiter offen bleibt

geschrieben von Theiss Urbahn

5. September 2013

Juli-Aug. 2012

Der Autor ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Auf dem diesjährigen 115. Deutschen Ärztetag (dem »Parlament der deutschen Ärzteschaft) wurde eine »Nürnberger Erklärung zu den medizinischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die NS-Medizin« einstimmig angenommen. In ihr sind wichtige Aussagen enthalten, wie: »Im Gegensatz zu immer noch weit verbreiteten Annahmen ging die Initiative… nicht von politischen Instanzen, sondern von den Ärzten selbst aus. Diese Verbrechen waren auch nicht die Taten einzelner Ärzte, sondern sie geschahen unter Mitbeteiligung führender Repräsentanten der verfassten Ärzteschaft…«

Diese Feststellungen sind durchaus zu begrüßen, doch bleibt zu fragen: Warum benötigte »die deutsche Ärzteschaft« nach den Nürnberger Ärzteprozessen 1947 noch 65 Jahre, also zwei Generationen, um zu solchen Einsichten und einem deutlichen Schuldbekenntnis zu gelangen? Warum fehlen immer noch Hinweise darauf und Erklärungen dafür, dass die wissenschaftstheoretischen Grundlagen und sozialen Begründungen für die Annahme von »lebensunwertem Leben« nicht von den Nazis stammten, sondern aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft kamen? Warum gibt es bis heute eine Kontinuität im Denken und politischen Handeln, die sich in der anhaltenden Tendenz zur Rationierung von Gesundheits-und Sozialleistungen (Zwei-Klassen-Medizin) vor dem Hintergrund kapitalistischer Interessen manifestiert? Da gibt es für »die deutsche Ärzteschaft« und nicht nur für sie, noch viel zu tun.