Weg nach Auschwitz

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

Die »Mörder im weißen Kittel« und ihre
Nachkriegskarrieren im Saarland

Nov.-Dez. 2011

Gisela Tascher: Staat, Macht und ärztliche Berufsausübung 1920-1956. Gesundheitswesen und Politik: Das Beispiel Saarland. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2011. 436 Seiten, 48 Euro

Ungesühnte Verbrechen

»Gab es saarländische Ärzte, die vor Gerichten für ihre Verbrechen während der NS-Jahre zur Rechenschaft gezogen wurden?«

Tascher: »Es liefen wohl mehrere Verfahren vor Gerichten, doch sie wurden alle niedergeschlagen.«

(Interview in der Saarbrücker Zeitung vom 21.9. 2010)

Der »neue Wunsch nach Transparenz bei Firmen und Behörden« sei wohl kein Zufall, konstatierte unlängst der Autor eines Beitrages auf Deutschlandradio unter Verweis auf jüngste Publikationen über den Quandtkonzern, den BND oder den Verfassungsschutz. Der Beitrag lief unter dem Motto: »Aufarbeitungswelle nach dem Tod«. Auch jene Personen, die für das verantwortlich sind, was Gisela Tascher in ihrer vorliegenden Analyse darstellt, weilen nicht mehr unter den Lebenden. Für den Leser stellen sich hier die Fragen nach den Ursachen des langen Schweigens und danach, wie es möglich war, dass die Täter nicht nur ungeschoren davon kamen, vielmehr durch die nahtlose Übernahme in die Nachkriegsgesellschaft im leicht modifizierten Ungeist in einflussreichen Positionen weiter machen konnten. (Die Karrieren einiger führender »Mörder im weißen Kittel« werden im biografischen Anhang fortgeführt bis in die Zeit nach 1945.)

»Wer Menschen das Lebensrecht abspricht, wer Menschen nach biologischer oder ideologischer Wertigkeit selektiert, hat den Weg nach Auschwitz schon betreten«, zitiert die promovierte Medizinerin Ernst Klee in der Einleitung ihrer als Längsstudie angelegten Analyse. Für das bis Januar 1935 unter französischer Verwaltung stehende Saargebiet galten mit dem Anschluss als »Gau Saarpfalz« (ab 13. März 1941 »Gau Westmark«) an das »Reich« neben anderen auch das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« ebenso wie die ganze perverse Rassengesetzgebung, beispielsweise das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (»Erbgesundheitsgesetz«).

Mit dem erstgenannten wurde die »Säuberung« des Beamtenapparates von Juden und Linken durchgeführt. Mit dem zweiten und dann folgenden ähnlichen »rassenbiologisch« begründeten Gesetzen wurden die Voraussetzungen zur Vernichtung der »Ballastexistenzen« geschaffen. »Der nationalsozialistische Rassengedanke«, so hatte Hitlers »Beauftragter für die geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP«, Alfred Rosenberg, 19935 dekretiert, »fordert eine Ausmerzung der Erbuntüchtigen und eine Förderung alles wertvollen Rassegutes.« Im Ergebnis des staatlichen Feldzuges zur »Ausmerze« wurden an die 350 000 Frauen und Männer unter zum Teil grausamen Bedingungen »unfruchtbar« gemacht, d. h.. zwangssterilisiert und mindestens 200 000 Kranke und Behinderte in dem als »Euthanasie« bezeichneten Mordprogramm vergast, durch Spritzen oder systematischen Nahrungsentzug umgebracht.

Die vorliegende Studie konzentriert sich mit einer Fülle an Details auf das Saarland und hier auf die Komplexe »Sterilisierung« und »Euthanasie«. Ein Thema, das immer noch nicht »in wünschenswerter Tiefe und Breite erforscht ist«. Dies Angesichts der Tatsache, dass nach Auswertung der entsprechenden Kartei 75 Prozent der Ärzte des Saarlandes und 78 Prozent der Ärzte der Pfalz, viele davon schon vor 1933, Mitglied in der NSDAP oder einem der NSDAP angeschlossenen Verbände waren. Bis heute können noch keine genauen Zahlen über das Ausmaß des Mordes an »Ballastexistenzen« im Saarland genannt werden können. »Hierzu müssten noch Patientenakten ausgewertet werden«, heißt es an einer Stelle und: »Wie viele Tote hier ruhen, ist nicht genau zu sagen«, ist zu über den kleinen Friedhof auf dem Gelände des Landeskrankenhauses Homburg zu lesen. 2302 sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter kamen hier als Opfer der »Euthanasie« ums Leben.

Die der verdienstvollen Untersuchung anhängenden Abschnitte stellen den Leser vor einige Probleme. Etwa die erkennbar standespolitisch begründeten kritischen Anmerkungen zum heutigen Gesundheitswesen. Grundsätzlich politisch fragwürdiger wird es, wenn von der »neuen sozialistischen Solidarität« im faschistischen Gesundheitswesen oder vom »neuen deutschen Sozialismus nationalsozialistischer Prägung« gesprochen wird. Und dann greift die Autorin (im letzten Satz) auch noch zur rot-gleich-braun setzenden Totalitarismuskeule. Nach der umfassenden Darstellung der von diesem Regime begangenen Massenmorde rührt sie die »Gesundheits- und Sozialpolitik« des NS-Staates mit der DDR in einem Topf zusammen.