Wenn man die anderen tötet, tötet man sich selbst.

5. September 2013

Gedanken zu einem Roman von David Grossman. Von Regina Girod

Sept.-Okt. 2010

David Grossman, »Eine Frau flieht vor einer Nachricht«, Hanser Verlag Müchen, 736 Seiten, 24,90 Euro

Am 10. Oktober erhält David Großman den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Eine Frau flieht vor einer Nachricht. So heißt das Buch des israelischen Autors. Und genau davon erzählt es auch.

Zermürbt von Ängsten, verletzt und bestürzt vom Auseinanderbrechen ihrer Familie, flieht Ora vor der Nachricht, dass ihr jüngster Sohn bei einem Militäreinsatz gefallen sein könnte. Gerade war seine Dienstzeit zu Ende, die Gefahr, ihn zu verlieren, scheinbar gebannt, da meldet sich Ofer noch einmal – als Freiwilliger für eine Strafexpedition. Etwas in ihr weiß, dass er diesen Einsatz nicht überleben wird. In letzter Verzweiflung versucht sie, unerreichbar für die Überbringer der Todesnachricht zu sein, besessen von dem Gedanken, damit den Tod des Sohnes selbst zu verhindern. Mit Magie das Schicksal bannen; man fragt sich, ist die Frau verrückt?

Nach außen nicht, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Sie bringt den Sohn persönlich zum Kommando und lächelt in die angerückten Kameras. Wie es sich gehört. Im Innern aber steht sie mit dem Rücken an der Wand. Ohnmächtig und verzweifelt ist sie dem Wahnsinn wirklich nahe, ihre Flucht ist ernst gemeint. Fast mit Gewalt bewegt sie ihren alten Freund Avram, mit ihr auf Wanderschaft zu gehen. 30 Tage lang, solange wie der Einsatz dauern soll.

Der Plot erinnert an die Märchen aus tausendundeiner Nacht. Um das Leben ihres Sohnes und um ihr eigenes Leben erzählt die Frau dem Jugendfreund auf ihrer Wanderung von Ofer – ihrer beider Sohn. Und natürlich von sich selbst und ihrem Mann Ilan, der einmal Avrams bester Freund gewesen ist. Scheinbar ohne Logik, rein assoziativ reiht sie Geschichten aneinander, gibt innerste Gefühle preis und lässt sich immer tiefer auf ihr Gegenüber ein. Avram soll, ja muss! verstehen, was sie alleine nicht verstehen kann. Ein sehr intimer Vorgang. Der Leser wird hineingezogen in den Bund der beiden, die Offenheit der Frau bewirkt, dass er sich schutzlos fühlt wie sie. Was hat den Traum zerstört von einer hellen, freundlichen Familie? Warum soll Ofer sterben müssen?

Es geht nicht einfach um private Angelegenheiten in diesem Buch. Es geht um alles. Mehr als dreißig Lebensjahre von Avram, Ilan und Ora – und die ganze Zeit herrscht Krieg. Aus den Geschichten der drei Menschen flüstert, keucht und schreit die Frage: Was hat der Krieg aus uns gemacht? Sie sind 16, als sie sich das erste Mal begegnen, im Sechstagekrieg. Die Jungen wollen Künstler werden, beide lieben Ora und Ora sie. Dann das schreckliche Ereignis, das ihr Leben prägen wird. Avram fällt den Ägyptern in die Hände, am Suez 1973. Sie foltern ihn bestialisch. Er wird ausgetauscht und überlebt. Als gebrochener Mann.

Ganz zum Schluss, fast am Ende des Romans, wenn man schon glaubt, alles verstanden zu haben, kommt Großman noch einmal auf jene Schlacht zurück, nach der Avram gefangen wurde. Und schildert sie mit voller Wucht in ungeheuerlichen Szenen. Avram ist verwundet. Er liegt im Niemandsland. Tagelang. Über Sprechfunk bettelt er um Hilfe, flucht und schreit. Er kehrt sein Innerstes nach außen. Was für ein Irrsinn! Ist da noch jemand, der ihn hört? Gibt es überhaupt noch Menschen in einer solchen Schlacht? Großmann weiß, wovon er schreibt. Aus Sicht der Kämpfenden lässt er den Krieg erstehen, voll Trauer, Wut und Mitgefühl. Und dennoch spürt der Leser jeden Augenblick: Was hier passiert, das muss nicht sein! Gerade das macht ja den Wahnsinn aus, er kennt keinen Grund. Nichts berechtigt Menschen, sich zu schlachten. Nichts und nirgends auf der Welt. Und doch herrscht Krieg. Was wird aus uns, wenn alle Normen brechen und solcher Irrsinn zum Normalen wird?

In den Geschichten seiner Heldin Ora, einer sensiblen Frau, geht Großman dieser Frage nach. Im Alltag, nicht nur in der Schlacht. Sami ist ihr Taxifahrer, ein Palästinenser. Mit ihm erlebt sie Israel aus seiner Sicht. Als Araber ist er verdächtig, er wird verachtet und als potentieller Feind behandelt. Oras Wunsch nach einer menschlichen Beziehung zu ihm scheitert. Immer wieder. Sie kann ihn nicht bewahren vor den Gefahren und den würdelosen Szenen, die ihm widerfahren, während sie sich gegen ihren Willen auf der anderen Seite wiederfindet. Ein Volk, das andere unterdrückt, kann selbst nicht frei sein. So klar und einfach habe ich den Satz nie illustriert gefunden. Denn Freiheit heißt doch auch, menschlich handeln zu dürfen. An jedem Menschen, nicht nur jener Gruppe, der man gerade angehört. Ora sagt an einer Stelle, als Palästinenser müsse man ja verrückt werden von dem Ausmaß der Demütigung. Und jene, die die Grausamkeit ohne Mitleid exekutieren? Was ist mit denen? Bleiben die »normal«?

Gewalt erzeugt Angst und Gegengewalt und noch mehr Angst und neue Gewalt und immer so fort. Es entsteht eine Art von kollektiver Verblendung. Nicht mehr begrenzt auf irgend eine Front, der »Feind« steht ja im eigenen Land. So wird das ganze Leben von diesem Strudel aufgesogen, er reduziert das Menschsein auf die Frage: Täter oder Opfer?

Oder beides?

Was für Bilder, was für Szenen, als die Selbstmordattentate Tel Aviv erschüttern. Eine Stadt gelähmt vor Angst und erfüllt von Hysterie. In dieser beklemmenden Situation fängt Ora an, Bus zu fahren. Scheinbar ohne Grund. Sie fährt die längsten Strecken ab, quer durch die ganze Stadt. Sie schwänzt die Arbeit, so übermächtig ist ihr Drang nach diesen Fahrten. Absurd? Ja.

Und doch verstand ich das, was sie da tut auch als Akt der Selbstbehauptung. Hilflos zwar und unbewusst, aber konsequent. Wenn wirklich keine andere Wahl mehr möglich ist, dann lieber Opfer sein.

Was bleibt denn jener Minderheit, die, aus welchem Grund auch immer, der Verblendung nicht verfällt? Weggehen? Durch das ganze Buch zieht sich das Bild des Exodus. Fortgehen. Alle Bindungen zerreißen, so wie Ilan und ihr älterer Sohn. Am Ende fliegen beide nach Lateinamerika, Rückkehr ungewiss. Doch Ora kann nicht weg, schon wegen Ofer nicht. Und Israel ist ihre Heimat. Sie liebt das Land, man spürt es immer wieder auf ihrer Wanderung. Alles aufzugeben hieße, die Wurzeln ihres Lebens abzuschneiden. Sie wollte doch nur ein normales Leben führen, was war daran verkehrt? Nach all den Jahren voller Kriege steht sie vor einem Abgrund. Und ihr Land, auch wenn es das nicht weiß, mit ihr.

Diese Frau kann sich nicht anpassen. An die Logik des Krieges und die Zerstörung aller Werte. Doch der Sog der Mehrheitsmeinung ist gewaltig. Ora selbst wird ihm nicht mehr erliegen. Nur die anderen um sie herum, sogar die eigene Familie, selbst Ofer! Ihr sensibler Junge, der kein Fleisch gegessen hat, weil er kein Wolf sein wollte – als Kind. Er half dem großen Bruder aus der Krise, als keiner ihm mehr helfen konnte, voll Zärtlichkeit und Mitgefühl. Und dieser Ofer schnitzt sich als Soldat im Urlaub einen Schlagstock. Das sei besser, als zu schießen, auf die aufgehetzten Kinder, die mit Steinen werfen. Ora fleht ihn an, im Kampf auf keinen Fall zu töten, wenigstens vorbei zu schießen. Und Ofer sagt: »Dann trifft der andere.« Kann sie das wollen?

Es kommt zum Bruch. Bei einer Razzia sperren die Soldaten aus Ofers Einheit einen alten Araber in den Kühlraum eines Fleischers – und vergessen ihn. Ora ist verzweifelt. Dass ihr Sohn gleichgültig wie die anderen, nicht mehr empfand, was er da tat, macht sie fassungslos. Einen Menschen dem Tod auszuliefern und ihn einfach zu vergessen – unbegreiflich! Doch ihr Mann Ilan hat nun genug von Oras Hysterie. Er möchte, dass sie ihren Sohn verteidigt, der Alte hat ja schließlich überlebt. Mit solchen Widersprüchen kann er nicht mehr leben, diese Frau ist verrückt. Und er geht. Oras Traum von einer hellen, freundlichen Familie, in der die Schrecken der Vergangenheit, die ihre eigene Kindheit prägten, keinen Platz mehr haben, ist zerstört.

Doch die Flucht vor jener Nachricht, dass ihr Sohn gestorben ist, weil er selbst getötet hat, wird scheinbar gegen jede Logik zum Beginn von Oras Heilung. Denn Avram, der Geschundene, der um seine Hoffnungen Beraubte, dieser zutiefst verletzte Mann, er versteht sie. Weil er weiß, dass die Spirale der Gewalt in Exzessen endet, in denen selbst der letzte Funken Menschlichkeit verglüht. Bei allen. So hat er, wenigstens für sich, die Kette der Gewalt gesprengt. Und seinen Peinigern vergeben.

Während der Gespräche mit Avram versteht die Frau erst wirklich, was geschehen ist. All das Unbewusste, das ihr Handeln prägte, ihre scheinbare Verrücktheit. Sie begreift: Sie muss sich der Verblendung widersetzen, sie kann nicht anders leben. Doch jetzt ist sie nicht mehr allein. Denn auch Avram, der keinem Menschen mehr vertrauen konnte, findet nach Jahrzehnten einen Weg zurück ins Leben – auf dieser Wanderung und im Gespräch mit ihr.

Eine analytische Beziehung, in der zwei Menschen sich gemeinsam retten, das ist die eine Ebene des Romans. Doch sie ist David Großman nicht genug. All die Geschichten seiner Heldin, voll Emotionen und voller Sinnlichkeit, ungeordnet, widersprüchlich wie das Leben selbst, sie wirken wie ein Sog, sich einzulassen auf den Weg, den Ora hier vor unseren Augen geht, hin zu dem klaren Satz: Es muss Schluss sein mit dem Krieg, auch wenn wir scheinbar siegen, töten wir uns selbst. Und echter Frieden braucht Gerechtigkeit, das heißt, der Stärkere gibt nach. Sonst bleibt man weiter eingesperrt in der Behauptung »Ich will den Frieden ja – aber der Feind, der will ihn nicht!«. Noch vierzig Jahre, oder fünfzig? Bis schließlich Norm geworden ist, was heute noch als Gräueltat gilt.

Zwei Generationen sind mehr als genug. Der Mensch ist in der Lage, sich zu korrigieren, warum nicht die Gemeinschaft? Wie ein Therapeut bemüht sich Grossman, die ideologische Verblendung seiner Gesellschaft aufzubrechen, indem er spiegelt, was er sieht. Und auch sich selbst hat er mit eingebracht in den Roman, nicht nur als Autor. Ich denke jedenfalls, ich habe ihn erkannt – in dem alten Kinderarzt, dem Avram und Ora unterwegs begegnen. Der fragt die Menschen, die er trifft, nach ihrer größten Sehnsucht und nach dem, was sie bereuen. Und schreibt es auf.

Dieser Mann erkennt, wie gefährdet Ora ist und kann ihr doch nicht helfen. Vielleicht aber doch? Was ist denn wirkungsmächtiger als Kunst?

Als ein solcher Roman?