Widerstand für das Leben

geschrieben von Heinrich Fink

5. September 2013

Nathan Steinberger wäre im Juli 100 Jahre geworden

Mai-Juni 2010

Barbara Brogini hat in ihrem Buch »Berlin- Moskau- Kolyma und zurück«, erschienen in der Edition ID-Archiv Berlin, Amsterdam 1996, Gespräche mit Nathan Steinberger zum Thema »Stalinismus und Antisemitismus« dokumentiert.

»Als ich Nathan Steinberger in einem Cafe kennenlernte, beobachtete ich das starke Zittern seiner Hände, wenn er seine Tasse zum Mund hob. Ich fragte: ›Wie alt bist du eigentlich, Nathan?‹ Seine Antwort: ›Ich war schon einmal hundert Jahre alt!‹ ließ mich einen Hauch der Schrecken im Gulag der ostsibirischen Kolyma erspüren. Kurz darauf erlebte ich Nathan in einer Diskussion, in die er mit sonorer Stimme und geschliffener Argumentation eingriff und bewunderte, dass sein Geist, sein kritischer Verstand und seine Überzeugungskraft trotz Kolyma so jung geblieben waren, wie zu der Zeit, als er sich begeistert dem Sozialismus zugewandt hatte.«, schrieb Jakob Moneta 1996 über Nathan Steinberger.

Ich habe Nathan Steinberger und seine Frau Edith im Cafe Moskau in Ostberlin auf dem Chanukkafest der jüdischen Gemeinde kennengelernt. Auch damals hob er mit zittrigen Händen sein Glas »Lechajm« (zum Leben!) und faszinierte mich dann durch kluge Argumente und den humorvollen Hinweis, dass er als »bekennender Sozialist und jüdischer Atheist« die jüdischen Feste nicht entbehren möchte. Unsere Freundschaft hat über 25 Jahre gedauert. Vor und nach der »Wende« ging es immer wieder um die Perspektiven des Sozialismus: Seit Schulzeiten sein realistischer Traum, nicht zerstört in siebzehn traumatischen Jahren im Gulag, ab 1955 durchlebte er kritisch-wache Jahre im DDR-Sozialismus, gemeinsam mit den wieder gefundenen Schulfreunden Max Kahane und Ernst Engelberg – drei konträre Exilerfahrungen.

Nathan Steinberger wurde am 16.7.1910 in Berlin als sechstes Kind einer jüdisch orthodoxen Familie geboren. Schon mit dreizehn wurde er Mitglied der jüdischen sozialistischen Jugendbewegung und im KJVD. 1926/27 war er Mitbegründer des Sozialistischen Schülerbundes, mit 18 Jahren wurde er Mitglied der KPD. 1929 bis 1932 studierte er Nationalökonomie in Berlin, war zuletzt Assistent von Karl August Wittfogel, auf dessen Empfehlung er nach Moskau in das internationale Argrarinstitut berufen wurde. Seine Promotion »Die Agrarpolitik des Nationalsozialismus« (Vorwort von Wilhelm Pieck) erschien noch rechtzeitig zum 7. Weltkongress. Edith Steinberger, in künstlerischem Tanz ausgebildet, arbeitet als Gymnastiklehrerin in Moskau. Im selben Jahr wurde Tochter Marianne geboren. Nach der Machtübertragung auf Hitler 1933 hatten sich Nathan und Edith entschieden, in der Sowjetunion im Exil zu bleiben, um als Juden und Kommunisten ihr Leben zu retten. Aber alsbald begannen Schauprozesse, deutsche Genossinnen und Genossen wurden verhaftet, selbst unter engen Freunden schlug politische Ratlosigkeit in Mistrauen um.

Nathan Steinberger wurde 1937 verhaftet und blieb bis 1946 in einem ostsibirischen Arbeitslager, seine Frau wurde in Kasachstan inhaftiert. Seit 1946 lebten beide »auf ewig verbannt« in Magadan. Erst 1955 rehabilitiert, durften sie im Dezember nach Ostberlin ausreisen. 1956 wurde er in die staatliche Plankommission der DDR berufen, seit 1960 dann als Professor an die Hochschule in Meißen, ab 1963 an der Hochschule für Ökonomie in Berlin. Nach 1989 erlebten auch Edith und Nathan Steinberger, dass die Proteste und Wünsche, die die Wende herbeiführten, an Marionettenfäden gehängt wurden, mit denen routinierte Akteure alsbald ein ganz anderes Spiel inszenierten. Aber Nathan Steinberger ist dabei geblieben: »Stalinismus kann und darf kein Synonym für Sozialismus und Kommunismus sein. Er ist deren Deformation und fatales Zerrbild. Ohne sozialistisches Gegenmodell zu Kapitalismus und Stalinismus würde die Hoffnungsgeschichte von Generationen preisgegeben.« Auch Edith und Nathan wurden in der DDR verpflichtet nicht über ihre bitteren Erfahrungen in der SU zu sprechen. Als es nach der Wende großes Medieninteresse daran gab, haben sie nur zurückhaltend von ihrem Leiden berichtet. Denn sie fühlten sich solidarisch mit der Mehrheit der Weltbevölkerung, die zunehmend Verfolgung und Ausbeutung ausgeliefert wurde. Ihre Frage blieb: »Wer hat das Recht, Menschen auszubeuten und auf Kosten ihres Leidens Wohlstand für wenige zu sichern?

Nathans Schulfreund und politischer Weggenosse Ernst Engelberg hat im vergangenen Jahr seinen 100. Geburtstag persönlich erlebt. Auf Nathans Grab werden nach jüdischer Tradition selbst zum 100. Geburtstag keine Blumen gelegt, weil Erinnern in Worten die Überzeugung und Hoffnung des Toten lebendig halten soll. Mit diesem Artikel hebe ich zum Gedenken des 100. Geburtstages von Nathan Steinberger voller Anerkennung das Glas: »Lechajm – zum Leben!« Nathan, wir lassen deine Hoffnung nicht verloren gehen.