Widerstand ist möglich

geschrieben von Aufgeschrieben von Regina Girod

5. September 2013

Gespräch mit Anita Leocadia Prestes über ihre Eltern, Geschichte
und Politik

März-April 2008

Anita Leocadia Prestes, Tochter von Olga Benario und Luis Carlos Prestes, ist Professorin für die Geschichte Brasiliens an der Universität von Rio de Janeiro (UFRJ)

Antifa: Aus Anlass des 100. Geburtstags ihrer Mutter, Olga Benario, waren Sie zu Gast in Berlin, Ravensbrück und München. Welche Eindrücke nehmen Sie mit nach Hause?

Anita Prestes: Wir hatten beeindruckende und emotionale Begegnungen mit deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten. Zu Hause werden wir berichten können, dass es in Deutschland Menschen gibt, die gegen den Neofaschismus und für Demokratie und Sozialismus kämpfen. Die hat es im Übrigen ja schon immer gegeben. Der Eindruck, Deutschland sei vor allem ein reaktionäres Land, stimmt so nicht. Das Bewahren der Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand, etwa mit Stolpersteinen, wie jener, der in Berlin für meine Mutter eingeweiht wurde, ist auch ein Beispiel für uns. Das Leben der Menschen, die gegen den deutschen Faschismus gekämpft haben beweist, dass Widerstand selbst unter den Bedingungen größter Unterdrückung möglich ist, dass es immer Mittel und Wege gibt, um zu kämpfen. Diese Erfahrung müssen wir der jungen Generation vermitteln. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.

Antifa: Sie wurden 1936 im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße geboren und von den Nazis im Alter von 14 Monaten an ihre Großmutter, Leokadia Prestes, übergeben. Ihre Mutter, Olga Benario, wurde 1942 in Bernburg ermordet. Ihren Vater, Luis Carlos Prestes, lernten Sie erst mit 8 Jahren kennen, als er durch Amnestie aus der Haft freikam. Was hat das für Ihr Leben bedeutet?

Anita Prestes: Meine Großmutter und meine Tante haben mich aufgezogen. Sie haben mir von klein auf von meinen Eltern erzählt und mir ihren Kampf erklärt. In unserer Wohnung in Mexiko, das ist die erste, an die ich mich erinnere, hingen ihre Fotos im Wohnzimmer. Abends habe ich ihnen immer „Gute Nacht“ gesagt. Ich war und bin stolz auf meine Eltern. Nicht immer war unser Leben leicht. In Brasilien herrschte lange Zeit ein starker Antikommunismus. Aber ich habe auch viel Solidarität erfahren. Vor allem in der Sowjetunion, wo ich viele Jahre im Exil gelebt habe. Ursprünglich habe ich Chemie studiert, mich dann aber doch der Geschichte zugewandt. Ich bin froh, dass ich dem Wunsch meines Vaters folgend, ein Buch zur Geschichte der „Coluna Prestes“ verfasst habe, in das neben historischen Quellen und Dokumenten auch seine Erinnerungen und Erfahrungen eingeflossen sind. So konnte ich die historische Wahrheit über einen wichtigen Abschnitt revolutionärer brasilianischer Geschichte für die nächsten Generationen bewahren.

Antifa: In Brasilien herrschte zwanzig Jahre lang eine Militärdiktatur. Wie geht man heute mit diesem Abschnitt der Geschichte um? Gibt es eine Art Aufarbeitung?

Anita Prestes: Leider viel zu wenig. Präsident Lula will keinen Streit mit den Militärs. Viele Täter von damals haben bis heute wichtige Posten in der Verwaltung. Zwar gibt es einen gewissen Druck von Seiten der demokratischen Kräfte, sie von den Hebeln der Macht zu entfernen. Aber sie selbst verkünden nach wie vor, sie hätten nur „ihre Pflicht gegenüber der Heimat erfüllt.“ Der Widerstand gegen die Diktatur war in Brasilien nicht so stark. Deshalb konnte sich das Militär auf selektive Unterdrückungsmaßnahmen beschränken. Die jungen Leute heute können sich überhaupt nicht vorstellen, dass zum Beispiel Folter damals eine Normalität war. Die nach der Diktatur geborene Generation ist leider ziemlich unpolitisch. Sie weiß wenig über die Geschichte und die Medien tun das Ihre dafür, dass das auch so bleibt.

Antifa: Das heißt, auch Luis Carlos Prestes und Olga Benario sind in Brasilien heute kaum noch bekannt?

Anita Prestes: Ganz so ist das nicht. Wie hier in Deutschland gibt es auch bei uns Kräfte, die versuchen, der Jugend die Geschichte so zu vermitteln, wie sie tatsächlich war. Gegen all die Verfälschungen der bürgerlicher Seite. Im März werden wir an der Universität von Rio de Janeiro eine Veranstaltungsreihe zum Thema 100 Jahre Olga Benario und 110 Jahre Luis Carlos Prestes durchführen. Was meine Mutter betrifft, gibt es einen Roman über ihr Leben von Fernando Morais, der auch verfilmt wurde. Der Film war unter der Jugend Lateinamerikas so populär, dass seitdem sogar Schulen und Straßen nach Olga Benario benannt worden sind.

Antifa: In Europa schaut die politische Linke in den letzten Jahren mit großer Hoffnung auf Lateinamerika. Wie schätzen Sie die politischen Prozesse auf Ihrem Kontinent ein?

Anita Prestes: Außerhalb Lateinamerikas hat man den Eindruck, unser Kontinent sei eine Art homogener Block. Das stimmt aber nicht. In meinem Heimatland Brasilien wurden zum Beispiel große Hoffnungen auf Lula gesetzt, die sich nicht erfüllt haben. Zwar praktiziert seine Regierung eine vernünftige Außenpolitik und unterstützt die Regierungen von Venezuela und Boliviern, aber seine Innenpolitik ist fragwürdig. Er hat Kompromisse mit den USA geschlossen und betreibt eine klassische neoliberale Politik. Heute ist in unserem Land niemand glücklicher als die Banken, weil die nämlich legendäre Gewinne machen. In Bezug auf Venezuela und Bolivien habe ich tatsächlich mehr Hoffnung. Ich bin froh, dass auch in meiner Heimatstadt Rio de Janeiro in letzter Zeit eine Solidaritätsbewegung mit den beiden Ländern entstanden ist.