Wie das Leben sein könnte

geschrieben von Cornelia Uschtrin

5. September 2013

Aki Kaurismäkis poetischer Film über Solidarität

Nov.-Dez. 2011

Die Aki-Kaurismäki-Fan-Gemeinde ist von »Le Havre« vermutlich irritiert. Dem Milieu der Habenichtse ist der aus Finnland stammende Regisseur zwar treu geblieben, auch Stimmung und Bilder sind eindeutig wiedererkennbar aus früheren Filmen. Doch die Wendungen, die der Film am Ende nimmt, sind unerwartet idyllisch, geradezu unkaurismäkihaft hoffnungsselig. Ist der Meister des Bizarren nun altersmilde geworden?

Die Themen des Films »Le Havre« gehören zu den Härtesten, die das Leben zeichnet: Flucht, Armut, Krebs. »Le Havre« startet mit einer jener tragikomischen Szenen wie man sie von dem Finnen kennt: Ein Kunde des Schuhputzers Marcel Marx (André Wilms) wird auf offener Straße von dunklen Typen erschossen. »Wenigstens hat er noch bezahlt«, so die trockenen Worte, die der Schuhputzer dafür übrig hat. Doch es bleibt die einzige Szene dieser Art. So mitleidslos wie der Schuhputzer hier spricht, ist er eigentlich gar nicht. Und so unbarmherzig wie man es nach diesem Auftakt erwartet, wird es eigentlich auch nicht. Aber: Kaurismäki ist politischer geworden.

Manche kennen den 20 Jahre älter gewordenen Marcel vielleicht noch aus Kaurismäkis »Das Leben der Bohème«, wo er sich als Schriftsteller versucht hat. In »Le Havre« taucht er als Schuhputzer wieder auf und verdient sein Auskommen an U-Bahnhöfen. Sein Geld gibt er bei seiner Frau Arletty ab (gespielt von der unverwechselbaren Kati Outinen), die zu Hause mit dem Abendbrot wartet und ihm zwei, drei Drinks in der Kneipe gönnt. Die beiden leben im Fischer-Viertel von Le Havre, wo die Verhältnisse hart, aber die Herzen weich sind. Hier kennt jeder jeden und Marcel mag man hier. Überall darf er anschreiben: in der Bäckerei, im Gemüseladen und in der Bar »La Moderne« (an der selbstverständlich rein gar nichts modern ist). Man befindet sich in einer Art Zwischenzeit: die Kulisse des Hafen-Viertels ist wie aus den Sechziger Jahren, die Flüchtlingsproblematik wie ein Fremdkörper aus dem 21. Jahrhundert daraufgesetzt.

Eines Tages findet die Polizei in einem Hafen-Container eine Gruppe von afrikanischen Flüchtlingen. Ein halbwüchsiger Junge entkommt den Polizeikräften. Marcel findet Idrissa, nimmt ihn bei sich auf und plant mit kühlem Kopf, was mit ihm zu geschehen sei. Seine Frau Arletty nimmt derweil ihre aussichtslose Krebsdiagnose mit Fassung auf, verheimlicht sie aber gegenüber Marcel. Der ist fortan beschäftigt, Idrissas Verwandtschaft ausfindig zu machen, vollkommen furchtlos gegenüber den Behörden. Eine illegale Überfahrt nach London muss organisiert werden, das Geld für den Schlepper beschafft ein Benefiz-Konzert von »Little Bob«. Selbstverständlich wissen alle im Viertel Bescheid und halten zusammen. Bis auf einen – den Denunzianten, der mehrfach versucht, den Coup zu vereiteln.

Kommissar Monet (wie aus einem Comic-Strip entflohen: schwarzer Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen, Schlapphut, schwarze Handschuhe) ist dem Flüchtlingsjungen auf der Spur: Er ist eine zwielichtige Figur, zerrissen zwischen Pflichterfüllung und eigener Moral, gibt Tipps, damit der Junge ihm immer wieder entkommt. »Uns Polizisten mag eigentlich niemand – mir ist das gleich, aber die Jungen unter uns leiden darunter«, die Kommissar-Figur erklärt sich selbst. Der seltsame Kauz steht auf sympathische Weise neben sich, alt geworden und hadernd mit seinem Job, in dem er einst »erfolgreich« war.

Wird die illegale Überfahrt gelingen? Es wird ein Räuber-und-Gendarm-Spiel. Am Ende gewinnt das Traumhafte, das Wunschhandeln – viele gute Hände arbeiten zusammen. Aber es sind eben nicht nur Glück oder der günstige Zufall, sondern durchaus die Taten mutiger Einzelner, die zusammenhelfen und am Ende den Flüchtlingsjungen Idrissa retten. Sogar der Kommissar gehört dazu, als er kurz vor Schluss demonstrativ die Augen verschließt. Dafür nimmt ihn Marcel mit in die Kneipe – auch Kommissare können also gemocht werden.

Ein Wunder? Ja, ein echtes Wunder gibt es auch noch: Arletty erhebt sich geheilt aus dem Sterbebett. Idrissa hatte die Kranke zuvor noch im Auftrag von Marcel im Krankenhaus besucht und der weise Junge sagt ihr auf den Kopf zu: »Komm bald nach Hause, Marcel ist ohne Dich aufgeschmissen.« Dass die gerade noch vom nahen Tod gezeichnete Arletty ihren Marcel am Ende rosig und geheilt im Blümchenkleid erwartet, hätte niemand zu ahnen gewagt. So kippt die Story fast in eine Farce. Das ist eine trashige Art von Kitsch, die man nur einem Kaurismäki verzeiht. Als wollte er seiner Figur und uns die bittere Wahrheit einfach nicht antun. Wer allerdings einen gefühligen Film erwartet, wird durch Kaurismäkis spröde, wortkarge Charaktere enttäuscht – und doch bleibt man gerührt zurück – und: irgendwie dankbar. Der unreligiöse Kaurismäki hat einen politischen Film gemacht, der ihn des Glaubens überführt: des Glaubens an die gute Tat. Wenn es »magischen Realismus« im Film gibt, indem Wirklichkeit und Traumhaftes sich überlagern, könnte man »Le Havre« als ein Beispiel dafür nehmen. Ein schöner Auftakt zu einer Trilogie, auf die man sich freuen kann.