Zwillingsschwestern

geschrieben von Wolfram Adolphi

5. September 2013

und anderes »Vergessenes« in einem Jahr der Jahrestage

Sept.-Okt. 2009

Dr. Wolfram Adolphi (58) ist Autor, Verleger und Publizist. Er arbeitet für den linken Bundestagsabgeordneten Roland Claus.

Aus Anlass des 60igsten Jahrestages des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und der Gründung der DDR hat die Redaktion »antifa« die Publizisten Dr. Wolfram Adolphi, aus der DDR stammend, und Heiner Halberstadt, aus der alten BRD kommend, gebeten, einige Gedanken zur Sicht auf deutsche Geschichtsbilder festzuhalten.

»Klein«, ließ BRD-Bundeskanzler Konrad Adenauer im Mai 1954 die Leser des US-amerikanischen Magazins »Life« wissen, »ist der Raum in der Landmasse Europa-Asien geworden, in dem noch Freiheit herrscht, erschreckend klein ist Europa selbst, seitdem die Macht Sowjetrusslands bis zur Elbe reicht. (…) Nur ein Damm, der gemeinsam von den noch freien Völkern Europas im Verein mit den freien Völkern der Welt errichtet wird, kann das weitere Vorrücken der kommunistischen Massen hemmen. (…) Deutschland liegt in der Mitte dieses Dammes. Wenn die Mitte nicht geschlossen ist, wenn sie nicht jedem kommunistischen Druck widersteht, ist kein Halten mehr: dann überschwemmt die kommunistische Flut ganz Europa.« Das sagte Adenauer, da lag der Tag der Befreiung vom Faschismus gerade einmal neun Jahre zurück. Und der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, ohne den die Sowjetarmee niemals bis zur Elbe gekommen wäre, ganze dreizehn. Der Kanzler brauchte solche Sätze, um begründen zu können, was er bereits seit 1951 mit Vehemenz betreiben ließ: das Verbot der KPD, das 1956 auch tatsächlich Wirklichkeit wurde. Hitler hatte den Marxismus »mit Stumpf und Stiel ausrotten« wollen. Wer hätte gedacht, dass seine Absicht so schnell wieder offene Anhängerschaft fand.

Redet heute noch jemand darüber? Walter Ulbrichts Mauerbau-Satz aus dem Jahre 1961 »Niemand hat die Absicht …« ist für den Meinungshauptstrom zur stets abrufbaren Standardformel geworden. Aber Adenauer? Ist er gemeint, wenn der Ruf nach kritischer Befassung mit der Vergangenheit erschallt? Nein, »natürlich« nicht. Dabei kann man an diesem Beispiel eine Menge über die Zwillingsschwesternschaft von DDR und BRD lernen. Womit anzuerkennen wäre, dass die DDR eben nicht – wie es heute scheinen mag – die aberwitzige Herausbrechung eines Teils von Deutschland aus einer ansonsten heilen und wunderbaren Welt war, sondern Resultat einer Weltkatastrophe, an deren Zustandekommen Deutschland entscheidenden Anteil hatte, und dass sie mit ihrer Zwillingsschwester BRD zeitlebens aufs Engste verknüpft und verwoben war – in einem durch den weltweiten Ost-West-Systemkonflikt geprägten Verhältnis von Spannung und Kampf gegeneinander, in dem jede Aktion zugleich Reaktion war und neue Aktion und Reaktion hervorrief.

Aber nicht nur über das »Vergessen« der Adenauerschen Auslassungen will ich hier reden, sondern auch über das »Vergessen« derjenigen, die in der BRD solcher Politik entschlossene Kritik entgegensetzten, das KPD-Verbot als demokratie- und zivilgesellschaftsfeindlich erkannten und mutig zum gründlichen Diskurs darüber aufriefen. Wer redet heute noch von Wolfgang Abendroth, Werner Hofmann, Helmut Gollwitzer und vielen, vielen anderen, und von den Schulen, die sie begründeten? Wie überhaupt ist es um die herausragende Tradition der westdeutschen linken Intellektuellen bestellt? Nach 1990 war sie dahin. Und dahin sind seither auch die meisten Lehrstühle der linken, marxistischen Sozialwissenschaft. Selbst die verdankten ihre Existenz ganz offenbar der Systemauseinandersetzung, genossen Förderung nur so lange, wie es der Osten erzwang.

Und betroffen von diesem Prozess sind nicht nur jene kritischen Intellektuellen, die mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit der BRD hart ins Gericht gingen, sondern auch jene, deren Arbeitsfeld die DDR-Kritik war. DDR weg – marxistische Auseinandersetzung mit dem DDR-Realsozialismus weg. Alte BRD weg – marxistische Auseinandersetzung mit dem alten BRD-Kapitalismus weg. Und im Resultat von all dem bleibt eine unerhörte Schwächung der marxistischen Gesellschaftskritik und Geschichtsschreibung insgesamt.

2009, das Jahr 20 nach dem Mauerfall, das Jahr 70 nach dem Überfall des faschistischen Deutschland auf Europa: Es ist in der Tat ein Jahr, das aufs Mannigfachste zu erneutem und neuem Blick auf die Geschichte anregt. Und auch wenn es manchmal nicht so aussieht, lässt sich doch mit Gewissheit sagen: Bestand haben wird nur eine komplexe Sicht – eine, die sich den allfälligen Zumutungen der herrschaftsgewollten Nützlichkeit selbstbewusst zu entziehen vermag. Und ihre Wurzeln findet in Ost und West gleichermaßen.