Die stille Emigration

geschrieben von Tjark Kunstreich, Wien

9. September 2013

Ungarn: Gehen, ehe man vertrieben wird

Juli-Aug. 2013

Seit 2010 sollen nach Angaben der Opposition rund eine halbe Million Menschen Ungarn verlassen haben. Nachdem die Fidesz-Partei eine Zweidrittel-Mehrheit und zusammen mit den Nazis von Jobbik vier Fünftel der Parlamentssitze erreicht haben, wurde dieses Ergebnis von den Siegern nicht ganz unbegründet als Auftrag der Bevölkerung verstanden, dem völkischen Programm Taten folgen zu lassen. Diejenigen, die diesem Programm widersprechen oder zu Feinden erklärt werden wie die Roma und die Juden, befinden sich in der Minderheit: Sie verlassen in immer größeren Zahlen das Land, »still, aber ungebremst«, wie der »Pester LLoyd« schreibt: »Nach den offiziellen Zahlen des Statistischen Zentralamtes in Budapest, KSH, lebten im Jahre 2012 230.000 Ungarn in anderen europäischen Ländern und somit rund 60% mehr als vor dem Regierungswechsel 2010 und fast 80% mehr als vor Ausbruch der Finanzkrise 2008. Der Anstieg zwischen 2011 und 2012 ist der höchste seit der Wende 1989. Ein Drittel der Auswanderer leben danach in Deutschland, 20% in Großbritannien und 13% in Österreich, das, relativ zur eigenen Einwohnerzahl, damit den größten Anteil der Zuwanderung abbekam. Allerdings sind die Zahlen mit Vorsicht zu genießen, da längst nicht alle, die im Ausland studieren oder arbeiten, ihren Hauptwohnsitz in Ungarn abmelden. Inoffizielle Zahlen des Nationalwirtschaftsministeriums sprechen von einer Abwanderung seit 2010 von rund 400.000 Personen.«

In Österreich hat der »Standard« diese Entwicklung »stille Emigration« getauft. »Wir mussten nicht flüchten, aber ich wollte nicht warten, bis wir hätten flüchten müssen«, sagt mir Frau A., die wie die meisten ungarische Neuankömmlinge in Wien anonym bleiben möchte, weil viele Angehörige in Ungarn geblieben sind. Sie ist eine junge Ärztin, bezeichnet sich selbst als »Ungarin mit jüdischem Bekenntnis« – ein Protest gegen die skandalöse Rede von Ministerpräsident Victor Orbán anlässlich der Tagung des Jüdischen Weltkongresses im Mai 2013 in Budapest, in der er, von vielen unbemerkt, immer von den Juden und den Ungarn sprach, aber nie von ungarischen Juden: sie sind für Orbán offensichtliche keine Ungarn. Ihre Arbeit habe ihr gefallen, aber die Anfeindungen seien spürbar geworden, nicht nur in der Politik, sondern auch im Alltag. Sie habe weder warten wollen, bis sie persönlich betroffen gewesen wäre, noch ihre Kinder in dieser Atmosphäre aufwachsen sehen wollen. Ihr Ehemann, ein hochqualifizierter Facharbeiter, habe sich auf eine Arbeitsstelle in Wien beworben und diese auch bekommen. Sie selbst kümmert sich nun um die Nostrifizierung ihres Medizinstudiums und ihre Fachausbildung. Die wirtschaftliche und soziale Krise habe ihren Teil zu der Entscheidung beigetragen, Ungarn zu verlassen, erzählt sie, ihr Mann verdiene in Österreich besser. Frau A. wisse aber auch von anderen Auswanderern, die aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und Qualifikationen große Schwierigkeiten hätten. Sie verdingten sich als Saisonarbeiter oder arbeiteten in der Schattenwirtschaft.

Noch hilft die Freizügigkeit innerhalb der EU, das Problem zu verdecken, zumal viele der Emigranten ihre Wohnsitze in Ungarn zunächst behalten. Aber die Hoffnung, nach den nächsten Wahlen 2014 zurückkehren zu können, ist nicht groß – die Opposition ist zerstritten, Fidesz und Jobbik haben eine bewährte Arbeitsteilung: Fidesz-Politiker machen im Ausland stets Jobbik für Angriffe gegen Juden und Roma verantwortlich, während man im Inland die Horthy-Faschisten rehabilitiert. Jobbik hingegen fühlt sich für die Pfeilkreuzler zuständig, jene nationalsozialistische Fraktion, die den Deutschen bei den Deportationen half. Bislang sorgt diese Politik dafür, dass Ungarn weder von der EU noch von anderen Staaten wirklich behelligt wird.

Dass es ein Problem mit der Auswanderung außerhalb Europas gibt, demonstrierte jüngst Kanada mit einer Kampagne Ende 2012 in Miskolc, einer Stadt mit einem großen Roma-Bevölkerungsanteil: Auf riesigen Plakatwänden machte die kanadische Regierung auf die Änderungen der Einreisebedingungen nach Kanada aufmerksam, um Flüchtlinge abzuschrecken. 2011 suchten 4400 Roma aus Ungarn in Kanada Asyl. Nun wurde eigens das Einwanderungsgesetz nach europäischem Vorbild verändert. Ungarn ist nun ein Staat mit dem designated country of origin-Stempel: Es gibt einen Rechtsstaat und keine Verfolgung von Minderheiten. Nun haben die Regierenden in Budapest, aber auch viele Roma es schriftlich: Sie werden in Ungarn nicht diskriminiert und verfolgt. Gina Csanyi-Robah, die Leiterin des Roma-Community-Centers in Toronto sagte den Canadian Jewish News dazu: »Die Ironie an der Sache ist, dass, während Roma, Juden und andere Minderheiten in Ungarn einer eskalierenden Verfolgung und steigendem Hass – Segregation, gewalttätigen Übergriffen und Einschüchterungen – ausgesetzt sind, die kanadische Regierung Steuergelder für eine Kampagne nutzt, um genau diese Gruppen zu entmutigen, von der kanadischen Regierung Schutz zu erwarten.«