In der »Stadt der Bräute«

geschrieben von Hans Canjé

9. September 2013

In Iwanowo feierte ein Haus der Solidarität den 80. Jahrestag seiner
Gründung

Juli-Aug. 2013

Als sich am 22. Juni die Teilnehmer der Reise im Berliner Café Sybille zum »Russischen Abend« trafen, fehlte Hermann Müller aus Chemnitz. Der 91 jährige Senior der Reisegruppe, Deserteur aus der faschistischen Wehrmacht und Partisan in den Reihen der Roten Armee, war wenige Tage nach der Rückkehr verstorben. Mit der Reise hatte er sich, trotz der zu erwartenden Strapazen, einen letzten großen Wunsch erfüllt.

»Stadt der Bräute«, das war einmal im Volksmund die Bezeichnung für die rund 300 Kilometer von Moskau entfernt liegende Stadt Iwanowo. In ihrer Blütezeit hatte die örtliche Textilindustrie viele junge Frauen als Arbeiterinnen angelockt. Wenn der Bürgermeister Iwanowos heute von einem »Aushängeschild« der Stadt spricht, hat das aber weniger mit den Bräuten, als viel mehr mit einem Haus zu tun, das auf Initiative der Textilarbeiter Iwanowos und mit internationaler Solidarität gebaut und vor nunmehr 80 Jahren, am 1. Mai 1933 an die Jugend aus den um Brot, Freiheit und um ein Leben in Menschenwürde kämpfenden Völker übergeben werden konnte.

»Interdom«, so der Name des neuen Hauses der Organisation »Internationale Hilfsorganisation für die Kämpfer der Revolution«. Ein Stück Geschichte der Internationalen Solidarität ist mit dem Haus verbunden, das die Tradition des MOPR-Heimes fortführen wollte, welches am 25.April 1925 im thüringischen Elgersburg für die Betreuung von Kindern politischer Gefangener oder Ermordeter aus zahlreichen Ländern seiner Bestimmung übergeben worden war. Im Juli 1928 war der »Roten Hilfe« verboten worden, das Kinderheim in Elgersburg weiter zu betreiben. In jenen Tagen, als in Deutschland das faschistische Regime an die Macht gehievt worden war, kam aus dem fernen Russland mit der Inbetriebnahme des »Interdom« in Iwanowo die Antwort.

Auf die Spuren dieser Geschichte hatte sich in den Tagen, da in der Russischen Förderation der Tag des Siegs über den Hitlerfaschismus begangen wurde, eine Gruppe von Mitgliedern unseres Verbandes und des Vereins »Kämpfer und Freunde der spanischen Republik« (KFSR) gemacht. Im Reisegepäck die Fahne der 11. Internationalen Brigade aus dem spanischen Freiheitskrieg. Mit Isabel Pinar, der Präsidentin der »Assoziation der Freunde der Interbrigaden« (AABI), war auch eine Gruppe Spanier in Iwanowa zu Gast – im Gedenken daran, dass in den Jahren nach dem Franco-Putsch 1936 hier etwa 200 Kinder von Spanienkämpfern, unter ihnen auch die Kinder von Dolores Ibarruri, der »Pasionara«, und auch aus Deutschland, eine Heimstatt gefunden hatten.

Kinder aus Bulgarien, Deutschland, Rumänien, Italien, aus dem fernen Osten, aus China, Japan oder Korea fanden Aufnahme. 1936 hatten hier bereits Kinder aus 30 Nationalitäten eine neue Heimat gefunden. Insgesamt kamen im Verlaufe der Jahre Mädchen und Jungen aus 86 Ländern. Im Festzug am 1.Mai trugen Bewohner des Interdom die Fahnen dieser Länder. Das hauseigene Museum dokumentiert die bewegende Chronik des Hauses, die von den heutigen Bewohnern des Interdom in einem mitreißenden Jubiläums-Festprogramm singend und tanzend auf der Bühne nachvollzogen wurde. Berührend dabei die Erinnerung an die 17 Bewohner des Interdom, die im Großen Vaterländischen Krieg in den Reihen der Roten Armee gekämpft und ihr Leben gegeben haben. Dazu gehörten auch Kurt Römling aus Braunschweig und Rolf Gundermann.

Auch sie waren – zum Auftakt der Reise – eingeschlossen in das Gedenken an die im Kampf gegen die faschistischen Okkupanten Gefallenen der Roten Armee, derer an der Ehrenstätte für den »Unbekannten Soldaten« im Moskauer Alexandergarten nahe dem Roten Platz gedacht wird. Dass ihr Vermächtnis nicht vergessen ist, wurde auf jeder Etappe dieser Reise auf den Spuren der internationalen Solidarität deutlich. Im Interdom in Iwanowo, in dem heute überwiegend Kinder aus den Staaten der Russischen Förderation leben, wird es von den Bewohnern wachgehalten. »Wir brauchen keine nationalen und religiösen Streitigkeiten und Konflikte. Wir wollen keine Kriege«, so heißt es in einem Appell des internationalen Forums »Für Frieden und Freundschaft auf dem Planeten«, das im ehemaligen Moskauer Pionierpalast stattfand. Worte die, wie wir uns in den unvergesslichen Tagen im Interdom überzeugen konnten, Leitmotiv dieses Hauses sind – in der Tradition des MOPR-Kinderheimes in Elgersburg.