Ungewöhnliche Zugänge

geschrieben von Thomas Willms

9. September 2013

Die Zeitzeugeninterviews der Shoah Foundation

Juli-Aug. 2013

Bundeszentrale für politische Bildung/Freie Universität Berlin: Zeugen der Shoah; 4 DVDs + 4 DVD-ROM, 4,50 Euro

Zeugen der Shoah, Schulisches Lernen mit Video-Interviews, DVD-Begleitheft für Lehrende, 98 Seiten, 3,00 Euro

Die Videos sind eindrücklich und sehr aufschlussreich. Zugleich zerren sie an den Nerven und verleiten zum »wegklicken«. Sie widersprechen den Sehgewohnheiten, liefern keine spannenden Bilder, sind aber zugleich unberechenbar und unvorhersehbar.

Online-Plattform für die überwiegend deutschsprachigen Interviews (Zugang nach einfacher Registrierung) http://www.zeugendershoah.de

Nathan (Emil) Carlebach, Sylvia Ebel, Etty Gingold, Peter Gingold, (Kurt) Julius Goldstein, Ewald Hanstein, Max Kahane, Rahel Springer, Klaus Sternberg und viele andere.

Als bei irgendeiner geschichtspolitischen Debatte das Jammern über das Verschwinden der Zeitzeugen wieder einmal schlimm wurde, hieß es von einem Gedenkstättenmitarbeiter trocken, was man denn wolle: Heute hätte man in Form von Videos doch mehr Zeitzeugenberichte zur Verfügung, als jemals zuvor.

Richtig ist daran auf jeden Fall, dass gefilmte Zeitzeugeninterviews zunehmend in das Bildungswesen und die Medienlandschaft eingeführt werden. Führend ist die von Stephen Spielberg gegründete »Shoah Foundation«. Spielberg produzierte mit »Schindlers Liste«1993 nicht nur einen der wirkungsmächtigsten Spielfilme zum Thema, sondern direkt daran anschließend mit dem »Visual History Archive« auch das mit Abstand größte Oral History-Projekt (52.000 Interviews mit einer Gesamtlaufzeit von 120.000 Stunden). Heute angesiedelt an der Universität von Südkalifornien (USC) spielt das Institut eine weltweit führende Rolle bei der Aufbereitung und Verbreitung dieser besonderen Form von Quelle. Die Interviews wurden katalogisiert, digitalisiert, sequenziert, teilweise übersetzt und transkribiert so dass auch mittels Schlagworten gesucht werden kann. In Deutschland ist der volle Zugriff bislang nur im Campusnetz der FU Berlin möglich.

Das »Center für Digitale Systeme« (CeDiS) der FU hat nun Instrumente entwickelt, um diesen Fundus in den deutschen Schulbetrieb einzuführen. Die 900 deutschsprachigen Interviews und 50 fremdsprachliche sind verschriftlicht und auf einer Internetplattform zugänglich gemacht worden. Für eine seit Ende 2012 preiswert vertriebene DVD-Edition wurden zwölf Interviews ausgewählt und mit didaktischen Kommentaren, Materialien und Arbeitsvorschlägen versehen. Sie decken die Themen »Fliehen«, »Überleben«, »Widerstehen«und »Weiterleben«ab und stellen eine möglichst weite Auswahl der Schicksale dar, inklusive beispielsweise eines verfolgten Homosexuellen.

Das sehr gute Lehrerbegleitheft besteht zur einen Hälfte aus praktischen Hilfestellungen für Lehrende, zur anderen aus einer theoretischen Einordnung. Der Theorieteil thematisiert ausführlich die besondere Art dieser Quellen und macht deutlich, dass man sich ihnen sehr bewusst nähern sollte. Die Öffentlichkeit ist die Nutzung von Zeitzeugen als Autoritätsbeweis und zur Gefühlsuntermalung im Minutentakt gewohnt, mithin als Instrument der Antiaufklärung. Diese Interviews aber sind lang, streckenweise hölzern und scheinbar emotionslos. Man muss zwischen den Zeilen lesen, merkwürdige Äußerungen und Stockungen ernstnehmen.

Der Einsatz der Videos setzt ausreichend Zeit, reflektiertes methodisches Verständnis, gute historische Kenntnisse bei den Schülern und sehr gute bei den Lehrenden voraus. Wer Einblicke in den schulischen Alltag hat, wird zustimmen, dass diese Kombination von Voraussetzungen nur in Ausnahmefällen gegeben ist. Zu befürchten ist, dass es leicht auf »Heute schauen wir mal ein Video« hinausläuft.

Als historische Quelle sind die Videos schwierig. Es handelt sich – was bei der schieren Masse leicht untergeht – um eine vielfach eingeschränkte Auswahl der NS-Opfer. Die Menschen mussten den Faschismus nicht nur überlebt haben, sondern auch noch Mitte der 90er Jahre bereit sein darüber vor der Kamera Auskunft zu geben. Sie taten dies häufig in einer anderen Sprache (Englisch) als der, die sie seinerzeit sprachen. Sie sind durch die Erzähltraditionen zum Thema beeinflusst, die sich z.B. zwischen den USA und Israel stark unterscheiden. Es handelt sich zu fast 99 Prozent um jüdische Opfer. Naturgemäß schildern sie fast ausschließlich die Sicht von Kindern und Jugendlichen, die aber ausgedrückt wird von Menschen im Großelternalter.

Und ein Problem stellt auch das in den 90er Jahren gewählte »Setting« dar, in dem man die Interviewer – wobei es sich überwiegend um Laien handelte – nicht sieht. Sie arbeiteten einen vorgegebenen detaillierten Fragenkatalog ab und dies auch nicht immer sensibel. Es stellt sich somit die Frage, wem in diesen Filmen eigentlich etwas erzählt wird. Den Interviewern? Dem Kameramann? Den im Nebenraum wartenden Angehörigen? Einem imaginären Zuschauer von 2013?

Der Schritt der Shoah Foundation, die an heimischen Wohnzimmertischen entstandenen Videos in großer Zahl auf Youtube einzustellen, ist vielleicht unvermeidlich, aber nicht ohne Risiken. Es handelt sich immerhin um eine Medienumgebung, in der man zum Beispiel dadurch Anerkennung gewinnt, dass man den größten »Fake«-Film einstellt (»Kind auf Spielplatz von Adler entführt!«). Ganz zu schweigen von der Kommentarfunktion, die vielleicht besser ausgeschaltet worden wäre.

Von unmittelbarem Interesse für die VVN-BdA sind die auf der Online-Plattform veröffentlichten stundenlangen Interviews mit vielen unserer meist nicht mehr lebenden Kameradinnen und Kameraden. Wir sollten uns ansehen, wie und was sie den Interviewern aus dem in der Regel eher fremden kulturellen Milieu der Shoah Foundation erzählt haben. Vielleicht bekommt man hier Antworten auf Fragen, die wir ihnen gar nicht gestellt haben.