Wieviel Staat steckt im NSU?

geschrieben von Die Fragen stellte Regina Girod

9. September 2013

antifa Gespräch mit der Thüringer Landtagsabgeordneten
Martina Renner

Juli-Aug. 2013

Martina Renner ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Thüringer Landtag, stellvertretende Vorsitzende des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum NSU-Komplex und Mitglied im Landesvorstand der Thüringer VVN-BdA.

antifa: Seit der Aufdeckung der NSU-Morde finden sich in den Medien permanent Begriffe wie »Zwickauer Trio« oder »Jenaer Zelle«. Betont wird damit die ostdeutsche Wurzel der Terrorgruppe, doch bis auf einen verübte sie ihre Morde in den westlichen Bundesländern. Gibt es etwas spezifisch Ostdeutsches am »Nationalsozialistischen Untergrund«?

Martina Renner: Für uns wurden die Gewalttaten aus einem Netzwerk heraus begangen, das seine Anknüpfungspunkte überall in der Bundesrepublik hat. Deshalb gebrauchen wir diese Bezeichnungen auch nicht. In den neunziger Jahren gab es in den neuen Ländern eine spezifische Situation, die mit der in der alten Bundesrepublik, aber auch mit den heutigen Bedingungen nicht zu vergleichen ist. Die schon in der DDR existierende Skinheadszene wurde sofort von Nazikadern aus dem Westen organisatorisch wie ideologisch zur gut strukturierten Kameradschaftsszene entwickelt. Erst mit deren Hilfe begann sie, auch öffentlich zu agieren. In Sachsen und Thüringen entfalteten diese neu entstehenden Gruppen einen regelrechten Straßenterror. Dass sie das konnten, hatte auch mit dem geringen bzw. erfolglosen Verfolgungsdruck und mangelnder gesellschaftlicher Gegenwehr zu tun. Die frisch gegründeten Verfassungsschutzorgane waren von Beginn an auf Feinde von links fixiert. Das entsprach ihren politischen Vorgaben. Unterdessen schämen sich selbst Kollegen aus der CDU-Fraktion für die skandalösen Fehlleistungen, mit denen wir ständig konfrontiert werden.

antifa: Der NSU-Untersuchungsausschuss im Thüringer Landtag, dessen stellvertretende Vorsitzende du bist, arbeitet jetzt seit mehr als einem Jahr und hat bereits einen 600seitigen Zwischenbericht vorgelegt. Kann so ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss tatsächlich etwas Neues aufdecken?

Martina Renner: Etwas Neues ja, Alles nein. Wenn heute über das skandalöse Wirken der Geheimdienste und das Desaster einer rassistisch vorgefassten Ermittlungsarbeit zu den Morden öffentlich gesprochen wird, dann verdanken wir das dem Zusammenspiel von U-Ausschüssen, investigativen JournalistInnen, engagierten Antifas und kritischer Öffentlichkeit. Eine wirksame und umfassende Aufklärung von Behörden oder Verantwortlichen gibt es nicht. Das merken wir auch in den Zeugenvernehmungen; selbstgewählte Amnesie, offene Widersprüche bis hin zu Unwahrheiten bestimmen das Aussageverhalten vor dem Ausschuss. Da nehme ich allerdings einige Polizeibeamte aus, die sich sehr intensiv auch aus dem Gefühl des eigenen Versagens bzw. selbst erfahrener Behinderung in der Arbeit heute sehr offen und kritisch äußern. Aber wir als U-Ausschuss werden höchstens 20 Prozent der wirklichen Vorgänge aufklären können.

antifa: Was ist für Dich das Wichtigste in der weiteren Arbeit des Untersuchungsausschusses?

Martina Renner: Er darf sich nicht damit zufrieden geben, bestimmte Komplexe überhaupt nicht klären zu können, etwa die Umstände der Auflösung der polizeilichen Sonderkommission Rechtsextremismus im Jahr 1997 oder die Umstände der Garagendurchsuchung 1998 in Jena, bei der erst Böhnhardt und dann die zwei weiteren HaupttäterInnen »unter den Augen der Polizei« abtauchen konnten. Oder die Frage, warum der Geheimdienst so intensiv eigene Nachstellungen zu den Flüchtigen anstellte und gleichzeitig der polizeilichen Fahndung falsche Fährten legte, bzw. Informationen vorenthielt. Dahinter steht die Frage, ob an diesen zentralen Punkten von Seiten der politischen Führung, der Polizeiführung und der Hausspitze des VS Einfluss genommen wurde. Es geht immer wieder darum, wieviel Staat im NSU steckte, ob sich hinter den ganzen Pannen nicht doch eine Absicht verbarg oder wenigstens zu einem bestimmten Zeitpunkt Kenntnisse zum Aufenthalt, Umfeld und möglicherweise auch zu den Verbrechen des NSU nicht beachtet oder sogar bewusst missachtet wurden. Problematisch ist in dieser Hinsicht auch, dass der Bundesuntersuchungsausschuss wegen des zeitlichen Ablaufs die Frage nach den Todesumständen von Mundlos und Bönhardt nicht mehr behandeln wird. Man darf die Fragen nach dem Tatgeschehen und der Tatortarbeit in Eisenach ab dem 4.11.2011 nicht ausklammern. Nimmt man sie aus, würde dies gerade neue Spekulationen befördern. In diesem Sinne kommt dem Thüringer UA jetzt eine besondere Verantwortung zu.

antifa: Macht die Arbeit im UA darüberhinaus Sinn?

Martina Renner: Neben allem Ärger über Zeugen und Unzulänglichkeiten in der Aufklärung: Es ist wichtig, dass wir dem antifaschistischen Widerstand und vielen Engagierten in Thüringen endlich einmal Gehör verschaffen können. Viele können sich gut daran erinnern, wie sie in den 90er Jahren als Feindbild herhalten mussten, sowohl für die Nazis als auch für die Behörden. Damit wird vielleicht, wenn auch nur langsam, ein Umdenken befördert.