Der andere 11. September

11. September 2013

Chilenische Emigranten blicken zurück auf 40 Jahre Geschichte

 

Cesar: Wir kommen aus drei verschiedenen Parteien. Wir haben verschiedene Berufe und stammen aus verschiedenen Regionen Chiles. Was wir gemeinsam haben, ist Begeisterung für Salvador Allende und unsere Arbeit in der Unidad Popular.

Eduardo: Die Tage hatten damals mehr als 24 Stunden. Ich habe 8 Stunden am Tag gearbeitet, ich war ein normaler Arbeiter, und hatte gut 3 Stunden Fahrtzeit täglich. Und dann ging unser politischer Tag erst los. Wir wollten die Veränderung und gingen mit einer unglaublichen Energie an die Arbeit. Ich war ständig in Bewegung. Das war wie ein langer Traum. Trotz allem, was später kam, tut es mir manchmal Leid, dass meine Söhne diese Erfahrung nie machen konnten.

Edgardo: In diesen 1.000 Tagen haben wir mehr als ein Drittel unseres Lebens gelebt. Ich meine damit den Inhalt, die Bedeutung, die diese Zeit für unser Leben hatte. Wir sind davon bis heute geprägt.

Cesar: Ja, trotz allem, was danach kam, die Bitterkeit des Exils, die Einsamkeit, die verlorene Familie – ich bin mit meinem Leben zufrieden, weil wir das, was wir tun konnten, damals getan haben. Aber wir hatten keine praktische Vorstellung vom Faschismus. Wir haben ihn zunächst nicht erkannt. Man denke nur an Allendes Aussage »Das Militär ist das Volk in Uniform«. Welche Illusion!

Edgardo: Das haben wir teuer bezahlt. Und trotzdem gab es die ganze Zeit hindurch Widerstand.

Cesar: Die MIR hat ständig gekämpft, die Frauen, deren Männer umgebracht, verschwunden oder im Gefängnis waren, ab 1980 die Kommunistische Jugend mit der Frente Patriotico Manuel Rodriguez, die Aufstände in den Poblaciones.

Eduardo: Trotz der unglaublichen Repression nach dem Attentat auf Pinochet 1986 haben die Chilenen, als er sich im Plebiszit bestätigen lassen wollte, mit NO gestimmt. Und 1988/89 gingen Millionen auf die Straße …

Cesar: Vergessen wir aber nicht, dass bis dahin Milton Friedman schon sein neoliberales Experiment unter Bedingungen der totalen Rechtlosigkeit – ohne Gewerkschaften, ohne Mitbestimmung, ohne Streikrecht – abgeschlossen hatte und dafür dann den Nobelpreis erhielt. Da brauchte man nicht mehr unbedingt eine Militärdiktatur. Und sämtliche Parteien hatten sich vor allem durch ihre Auslandsleitungen vollständig sozialdemokratisiert und auf einen Pakt mit dem Militär vorbereitet, der seit den Wahlen von 1989 ja bis heute funktioniert.

Eduardo: Das ist die Verständigung über einen »Schlussstrich«: Bis heute gilt die Pinochet-Verfassung und ich glaube nicht, dass die nächste Regierung daran etwas ändert. Die Militärs genießen Straflosigkeit; Entschädigungen für ehemalige Gefangene – das sind 200 € im Monat – gibt es nur, wenn man unterschreibt, dass man für 50 Jahre auf die Strafverfolgung der Folterer verzichtet!

Edgardo: Außerdem besitzt das Militär Liegenschaften von 17,1 Mio. km² in ganz Chile, eingeschlossen Schulen und Krankenhäuser. Die Marine hat die Hoheit über 200 Meter landeinwärts entlang 4.300 m Küste und sie haben ihre Privilegien behalten, wie eine exklusive Rentenkasse, während normale Renten in Chile bei 300 € liegen und 30 Mrd. aus den Rentenkassen (in die nur die Arbeitnehmer einzahlen!) als Spekulationsmasse durch die Welt geschickt werden.

Eduardo: 1,7 Millionen Chilenen haben ungefähr 7 Rentenjahre bei Lehmann Brothers verloren. IWF und Weltbank sagen, das chilenische Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 22.000 $ im Jahr. 60,15 % der Beschäftigten erhalten aber nur 340 € im Monat, der Mindestlohn liegt bei 310 € im Monat. Die Militärs betrifft das nicht. Übrigens: wer Entschädigung bezieht, muss sich bei Renteneintritt für Rente oder Entschädigung entscheiden. Da wir alle nicht so lange in Chile gearbeitet haben, heißt das, wir bezahlen unsere Entschädigung mit der Rente praktisch selbst …

Cesar: Es herrscht insgesamt in der Gesellschaft eine große Lust auf Ahnungslosigkeit und Vergessen. Niemand will etwas vom Leid der Opfer hören, man verlangt von ihnen »Versöhnung«. Dabei geht das langsame Sterben vieler ehemaliger Folteropfer täglich noch weiter. Übrigens hat die damalige Präsidentin Bachelet nach dem 11. September 2001 natürlich auch sofort den »Kampf gegen den Terror« aufgenommen. Soziale Bewegungen und die ethnischen Minderheiten gelten als Sicherheitsproblem und werden kriminalisiert. Die Führer der Mapuche sitzen deshalb heute im Gefängnis.

Edgardo: Auf jeden Fall hat die Erfahrung mit der Diktatur unsere Überlebensfähigkeit weiterentwickelt. Mir kann nichts Schlimmeres mehr passieren. Und wir haben hier in Hamburg Freunde gefunden, die uns von Anfang an unterstützt haben.

Cesar: Dazu gehört auf jeden Fall die VVN. Steffi Wittenberg hat eine große Rolle gespielt und Heideruh, wo unsere Kinder einige Wochen verbringen konnten.