»Statistik über NS-Prozesse«

geschrieben von Thomas Willms und Paul Zimansky

21. November 2013

Die Geschichte einer Hintergrund-Publikation der VVN

 

Es wirkt zunächst wie eine persönliche Notiz. Ein weißes Blatt Papier beschrieben mit einem blauen Stift; die Überschrift:  »Statistik über NS-Prozesse 1965«. Ein paar Blätter, auf denen handschriftlich Orte, Namen, Daten und Ergänzungen notiert wurden, befinden sich, geklammert und chronologisch geordnet, hinter dem weißen Deckblatt.

Ausgabe 1/1970

Ausgabe 1/1970

Ein Schema ist bereits zu erkennen: Links stehen die Prozessorte, in der Mitte die Namen der Angeklagten und rechts Notizen zur verbrecherischen Tätigkeit bzw. einem markanten Ort des Verbrechens oder eine Gruppenzugehörigkeit.  »Sobibor«,  »Gestapo« – Schlüsselbegriffe mit denen man sofort etwas verbinden kann. An den Blättern wurde immer wieder gearbeitet, denn man kann sehen, dass Ergänzungen sowie Datierungen mit Rot nachgetragen wurden.

»Statistik über NS-Prozesse 1967« lautet die nächste Überschrift. Es ist eine Auflistung von NS-Prozessen in der Bundesrepublik Deutschland aus den Jahren 1966 und 1967. Ein ähnliches Schema: Auf der linken Seite stehen die Prozessorte, gefolgt von detaillierten Datierungen, daneben markante Orte und Begriffe der Verbrechen und auf der rechten Seite die Anzahl der Beschuldigten. Es sind bereits Monatsberichte mit Tabellen, in denen fortlaufend Ergänzungen vorgenommen worden sind.

Ab November 1967 kam eine Schreibmaschine zum Einsatz. Ergänzungen wurden weiter per Hand eingetragen. Unterschiedliche Schriften und Schreib-utensilien lassen darauf schließen, dass mehrere beteiligt gewesen sein müssen.

1968 nahmen die Angaben zu. Beginnend mit dem Januar wurde ein Großteil der Fälle vom letzten Stand (Dezember 1967) übernommen. Von Monat zu Monat wurden per Hand Fälle hinzu gefügt, die im Nachhinein bekannt wurden. Einige wurden durchgestrichen und/oder abgehakt. Wichtig hierbei: ist ein Prozess beendet, wurde er im nächsten Monat nicht mehr aufgeschrieben.

Es wurde begonnen, die Beschuldigten aller immer noch laufenden Prozesse eines Monats zu zählen. Auffallend ist die Verwendung unterschiedlichsten Papiers.

Ab dem Monatsbericht Oktober 1968 werden die Angaben konkreter, wie beispielsweise:  »Tötung v. 1400 Geisteskrank. aus den Heilanst. Stralsund, Trptow, Uckermünde u. Lauenburg, Kurt Eimann«

Man fragt sich mittlerweile: Wer waren eigentlich die Beschuldigten? Welche Funktionen hatten sie inne? Welche genauen Tatvorwürfe wurden ihnen gemacht?

In einem sechsblättrigen Dokument wird zum ersten Mal jeder noch offene Prozess mit zahlreichen Informationen versehen. Man findet im Wesentlichen folgende Punkte: Tatvorwürfe, ehemalige Funktionen/Positionen der Angeklagten, Tatzeitraum, Vorsitzende des Verfahrens und die Anklagevertreter.

Der Bericht für April’69  enthält mehrere Ausführungen der neuen und alten, noch nicht abgeschlossenen Prozesse. Es folgt das vorherige, ausführliche Dokument über die einzelnen, noch laufenden Prozesse (diesmal auf weißem Papier). Es werden dort Ergänzungen in roter Farbe vorgenommen. Vermehrt liest man  »Freispruch« oder  »Urteil am…«

Beispiele:  »Zwei der vier Beschuldigten (Essig und Scheufele) sind am 21.05.1969 freigesprochen worden. Das Verfahren gegen Balhorn wurde bereits vor längerer Zeit wegen  ›gesundheitlichen Gründen‹ vom Gericht abgetrennt. Das Verfahren gegen den Hauptschuldigen Wollschläger läuft noch.« Darunter steht: »Bochum: Das Verfahren endete am 8.5.1969 mit einem Freispruch für den Angeklagten Hauptmann der Wehrmacht, Helmut Streubel.«. »Berlin(W): Gegen 7 von insgesamt 9 Angeklagten im RSHA-Prozeß in Westberlin hat das Gericht wegen bereits eingetretener Verjährung, (§50, Abs. 2) das Verfahren eingestellt. (…)«

Bei einem weiteren Prozess in Hagen (Zweiter Revisionsprozess wegen Tötung von poln. Intell.) heisst es u.a.:  »(…)Verfahren gegen den Angeklagten Franz Lampe  »vorerst ausgesetzt.« (…)Auch dieses Gericht bezieht sich auf den Verjährungs-§ 50, Abs. 2.«

Eine letzte Information auf dem zweiten Blatt:  »Zahl der anstelligen Verfahren im Monat Mai: 14«.  »Zahl der Beschuldigten: 38«

Auf dem dritten Blatt stehen drei neue Fälle niedergeschrieben und eine interessante Information, die etwas über den Verteiler verrät. Die Statistik ging demnach an die Redaktionen der Wochenzeitung »die tat« (Frankfurt/M.), des  »Widerstandskämpfers« (Wien), die  »Stimme des Widerstands« (Frankfurt/M.), die Hlas Revoluce (Prag) und die Organisation ZBOWID (Warschau).

»Statistik über NS-Prozesse Juli 1969« – Dieser Bericht ist anders als alle vorherigen! Beginnend mit einem Inhaltsverzeichnis und einem Zwischenbericht über die Verurteilungen im Monat Juli:  »Im Monat Juli waren 14 NS-Prozesse anhängig mit insgesamt 41 Angeklagten. 5 NS-Prozesse mit 12 Beschuldigten gingen im gleichen Monat zu Ende. Von den 12 Beschuldigten wurden verurteilt: 4 zu lebenslänglich, 3 zu Zuchthaus, 2 mit Freispruch, 1 wegen Erkrankung abgetrennt, 1 wegen Verjährung eingestellt und 1 Beschuldigter verstarb während des Prozesses«. Die Urheberschaft wird erstmals deutlich gemacht: Zusammengestellt:  »Präsidium der VVN –Referat NS-Verbrechen« heißt es auf dem Deckblatt.

Verstörende Details werden genannt, so zum  »Revisionsprozess KZ-Dautmergen, Beschuldigte:  Beginn 25. Februar 1969 in Ulm«. Dort heisst es u.a.:  »In einem Fall wurde mit einem Neugeborenen experimentiert, um herauszubekommen, wie lange ein Säugling ohne Nahrung am Leben bleibt.«

Verantwortlicher Redakteur Karl Sauer

Verantwortlicher Redakteur Karl Sauer

Eine Zeugin erklärte auf die Frage, ob sie nach Deutschland fahren wolle um auszusagen:  »Wenn, dann nur mit einer Atombombe. So, wie die Juden mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurden, müssen auch die Deutschen ausgerottet werden.«

Ab August’69 wird unterschieden nach Revisionsverhandlungen, neuen Verfahren bis Ende 1969, voraussichtlichen Verfahren 1970 und eingestellten Verfahren – Anlagen kommen hinzu. Zahlreiche Eindrücke von den Prozessen, Schilderungen von Zeugen und Berichte über die zahlreichen Beschuldigten schlagen dem Leser auf den Magen.

Endlich, im Januar 1970, kommt ein Deckblatt hinzu. Oben links das Logo der VVN und die große Überschrift  »Statistik über NS-Prozesse«, eingeschlossen von zwei großen braunen Balken. Als Herausgeber wird das Präsidium genannt und auch der Name des Verantwortlichen Karl Sauer.

Damit war eine Publikation entstanden, die sich ausschließlich der Beobachtung von NS-Prozessen in der Bundesrepublik Deutschland widmete. Sie erbrachte folgende Leistungen:

– eine umfangreiche Berichterstattung über laufende sowie neue Verfahren gegen ehemalige NS-Verbrecher

– Herstellung eines Überblick

– Verdeutlichung, teils bis ins Detail, welche Verbrechen begangen worden sind

Doch ist die  »Statistik« überhaupt eine Zeitschrift gewesen? Sie hatte keinen Verkaufspreis und es gibt keine Abo-Informationen und erst ab 1982 eine ISSN-Nummer. Der Rechenschaftsbericht zum Bundeskongress 1975 weist auf die Intentionen der Herausgeber hin. 160 Exemplare würden monatlich versandt, so an Verfolgtenverbände im In- und Ausland sowie nahe stehende Zeitungen und Jugendorganisationen, Lagergemeinschaften, Institutionen, Archive und Bibliotheken sowie Fachschaften an Universitäten, Historiker aus Haifa und Warschau, Kriegsverbrecherkommissionen in Osteuropa und Juristen. Auffallend ist der internationale Zuschnitt. Ein großer Teil ging in 14 andere Staaten.

Dass es die  »Statistik« gegeben hat, ist heute weitgehend unbekannt. Trotzdem findet man sie in wichtigen Bibliotheken der Welt.

Ausgabe 10-12/1984

Ausgabe 10-12/1984

Für diese wenigen Exemplare wurde ein unerhörter Rechercheaufwand betrieben, der umso höher zu bewerten ist, wenn man bedenkt, dass es weder Computer noch Internet gab. Was trieb die Autoren an? Man darf annehmen, dass die Statistik im Wesentlichen von Karl Sauer erstellt wurde. Sauer beschrieb sich selbst in einem Lebenslauf (Archiv der VVN-BdA Baden-Württemberg) als in Österreich geborenes Arbeiterkind. Er wuchs in der Tschechoslowakei auf und wurde früh in sozialdemokratischen Organisationen aktiv. 1937 trat er mit 21 Jahren in die Internationalen Brigaden ein, in denen er bis zum Ende des Bürgerkriegs kämpfte. Mit deren Auflösung begann sein langer Leidensweg durch französische Internierungslager und das KZ Sachsenhausen. Befreit wurde er auf dem Todesmarsch am 3. Mai bei Schwerin. Sauer schrieb in seinem Lebenslauf weniger über das KZ als über die – glückliche – Zeit in der SP-Kinderorganisation. Und doch kann man die Akribie seiner Arbeit, von der heute noch mehrere hundert Ordner zeugen, die die Grundlage für die  »Statistik« boten, vor diesem Hintergrund besser verstehen. Die Täter kamen, selbst wenn sie vor Gericht kamen, weitgehend davon. Wenigstens das sollte dokumentiert werden. Wenigstens davon sollte berichtet werden und sei es nur im Ausland.

Verschiedene Zitate auf dem Deckblatt machen es deutlich. 1984 wurde Jean Améry zitiert:  »Unversöhnlichkeit mit den Mördern, die vielleicht noch unter uns sind, und den anderen, die nur noch als scheußliche Erinnerungsbilder gespenstisch vor uns stehen, ist das höchste moralische Gebot, die einzig zulässige geschichtliche Meisterung dessen, was da der Wider-Mensch veranstaltete.«

Sauer erlebte im Januar 1977 noch das Erschienen seiner umfassende Dokumentation  »Die Verbrechen der Waffen-SS«. Diese fand große Beachtung bei engagierten Rundfunk-, Presse und Fernsehjournalisten. Unter ihnen befanden sich z.B. Journalisten von  BBC-London, dem Rundfunk der DDR aber auch von  »Spiegel« und  »Stern.«

Sauer starb 1977 und fortan zeichnete der Generalsekretär Hans Jennes verantwortlich. Die konkrete Arbeit wird vor allem von Helmut Stein fortgesetzt worden sein.

Die Statistik wurde mit gleicher Struktur von 1970 bis 1984 herausgegeben. Der Ausgabezyklus verlängert sich im Jahr 1984, am Ende des Jahres wurde sie kommentarlos eingestellt. In der eigenen Zählung war dies der 19. Jahrgang, die handschriftlichen Statistiken wurden also mitgezählt.

Gab es nichts mehr zu berichten? Spielten finanzielle und organisatorische Fragen eine Rolle?

Was bleibt, ist eine beachtliche Fülle von (Hinter-grund)Informationen, Dokumenten und Schilderungen der Verhandlungen und statistische Angaben. Wie weit dieser Hintergrunddienst die Justiz, Medienberichte und politisch Prozesse beeinflusst hat, muss die Wissenschaft noch erforschen. Das Bundesarchiv der VVN-BdA kann dafür genutzt werden.