Es gab dort keine Milch

geschrieben von Raimund Gaebelein

13. Januar 2014

Ralph Dutli, Soutines letzte Fahrt, Wallenstein Verlag Göttingen 2013, 270 S. 19,90 EUR

Ralph Dutli, Soutines letzte Fahrt, Wallenstein Verlag Göttingen 2013, 270 S. 19,90 EUR

In einem Leichenwagen wird der jüdische Maler Chaim Soutine Anfang August 1943 aus seinem Versteck in Champigny nach Paris transportiert. Er ist an einem lebensbedrohlichen Magengeschwür erkrankt, kann in Chinon nicht adäquat behandelt werden und soll daher ins Santé Lyautey Krankenhaus im 16. Bezirk. Eine lebensgefährliche Unternehmung, sein Magengeschwür steht kurz vor dem Durchbruch. Lebensgefährlich, denn Frankreich ist von Wehrmacht und SS besetzt, Soutine steht auf der Fahndungsliste, seit seine Gemälde für Hermann Görings in der Schorfheide geplante »Norddeutsche Galerie« geraubt werden sollen. Große Durchgangsstraßen zu fahren, birgt ein zu hohes Risiko, überall sind Kontrollposten an den Ausfallstraßen, suchen nach Arbeitsdienstweigerern. Streiflichtartig treten ihm unter Einfluss von Morphium die Stationen seines Lebens vor Augen. Die Flucht aus der Enge seines Heimatortes Smilowitschi zwischen Wilna und Minsk, wo die jüdische Gemeinschaft seine surrealistische Malerei nicht annimmt. Seine Angst angesichts der Pogrome in Berditschew und Shitomir im Vorfeld des 1. Weltkriegs. Soutine erinnert sich an den Sommer 1919 in Céret, an seine apokalyptischen Bilder, die er lieber zerstört als erhalten sieht. Dr. Barnes aus Philadelphia, ein Amerikaner, entdeckt ihn in Paris, kauft dem unbekannten Maler Dutzende seiner Gemälde ab und lässt sie in die USA bringen. Erinnerungen gehen Soutine durch den Kopf, an die Gruppe junger Künstler im Montparnasse-Viertel, wo er seit 1913 lebte, an Modigliani, Krémègne, Chagall, Picasso, Cocteau, Max Jakob. Marie-Berthe Aurenge, die einstige Geliebte Max Ernsts, rettet ihn zu Kriegsbeginn vor der Internierung in den Pyrenäen, nach der Besetzung vor dem Abtransport in die Durchgangslager Drancy oder Pithiviers. Einen Stern trägt er nicht, er braucht seine vertraute Umgebung, seine Pinsel, Paletten, Tuben, seinen Bach und seine Mischung aus Milch und Wismutpulver, um die wachsenden Magenschmerzen zu besänftigen. Nein, es gibt dort keine Milch, keine Hoffnung für Soutine.