Pete Seeger war stets dabei

10. März 2014

Aus den Erinnerungen des Schriftstellers Walter Kaufmann

Pete Seeger 2007 (Foto: Anthony Pepitone)

Pete Seeger 2007 (Foto: Anthony Pepitone)

An jenem Abend im Winter 2009 gehörte ich zu den ältesten Besuchern im Kino Babylon in Berlins Mitte. »The Power of Song« schickte mich auf eine innere Weltreise. Ich sah mich als jungen Mann von Melbourne nach Sydney zum Fest der Eureka Youth League trampen, an die tausend Kilometer in Wind und Wetter, und immer an der Küste entlang, vorbei an Port Phillips Bay bis hin nach Wonthaggi, wo ich bei einer Bergarbeiterfamilie unterkam, und am Morgen weiter bis Bairnsdale am Tasmansee und von dort in einem Plymouth, den ein raubeiniger Unternehmer fuhr, der sich Jack nennen ließ und eine Mary als Begleiterin hatte, die irgendwie verzweifelt wirkte. Die beiden brachten mich bis Batemans Bay am Pazifik, von wo es, gemessen an australischen Entfernungen, nicht mehr weit bis Sydney war. Dort fand ich mich auf einer großen Wiese mit schattigen Eukalyptusbäumen ein, und schon von fern schallte mir der Song If I had a hammer entgegen, und ja, es war ein Fest der Jugend, mit Losungen und Fahnen, und ob ich in den Nächten zwischen Freitag und Montag mehr als insgesamt zehn Stunden schlief, ist fraglich. Drei verwegene Typen brachten mich in einem klapprigen Ford zurück nach Melbourne, was fünf Tage dauerte, wegen der Pannen, aber auch der trampenden Mädchen wegen, mit denen die drei den Ford überfrachteten … In unseren Köpfen war Pete Seeger mit dabei und die Lieder, die er zum Banjo und zur Gitarre sang. Jahre später, im fünfundfünfziger Jahr, auf der Neptunia, die uns von Sydney nach Genua brachte, war das wieder so, denn einer in der Gruppe besaß ein songbook mit Peters Liedern. Er konnte Noten lesen und sang los, und wir sangen mit, übten uns in Pete-Seeger-Songs, bis wir glaubten, bei den Weltfestspielen in Warschau (1955, d. Red.) bestehen zu können – Where have all the flowers gone … Zwei Mal erlebte ich den Sänger später im Berliner Osten, hörte ihn live – diese Kraft in der Stimme, die Überzeugungskraft, und wie er virtuos Gitarre und Banjo zum Klingen brachte. Turn, turn, turn … Jahre später im Central Park, New York, bei einer Rally for Peace, da war die Menge um Pete Seeger so dicht, meine Entfernung zu ihm so weit, ich sah ihn wie durch ein umgekehrtes Fernrohr, hoch und schlank und hager hinterm Mikrophon. Doch über die Lautsprecher hörte ich ihn gut – das Lied vom Hammer und das von den Blumen, und Turn, turn, turn. Das war das dritte und letzte Mal, dass ich ihn live erlebte, aber im übertragenen Sinn war er noch oft zugegen – nach dem Mord an Martin Luther King am 4. April des Jahres 1968 beim Poor Peoples March von Memphis, Tennessee bis Washington D. C., dort schallten seine Lieder durch die Lautsprecher über die Köpfe der Menge weg bis hin zum Weißen Haus. Joan Baez sang und Phil Ochs, und bis heute habe ich Joans helle glasklare Stimme im Ohr und Phil Ochs’ stählerne zur Gitarre.

Und wo noch war Pete Seeger dabei? In San Franciscos Berkeley, als Studenten zu Tausenden gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gingen, auch Judy Bates, die junge Hebamme, die mir viel bedeutete damals, und die mir für meine noch kleine Tochter Deborah ein Cookie Monster mit auf den Weg nach Berlin gab, eine blaue Handpuppe mit riesigem Mund – Judy Bates, die wir dann, vom Polizeiknüppel blutig geschlagen, zur Klinik in Fremont bringen mussten

Und auch in Los Angeles nach Angela Davis’ Freispruch war Pete Seeger im Geiste zugegen, und später im Madison Square Garden New York, da wurde ihr Sieg gefeiert, und auch in Montevideo damals, wo Delia Murillo und ich an der Kundgebung der Künstler für Kuba teilnahmen und uns das Lied Guantamera noch in den Ohren klang, als wir im Strom der Demonstranten durch Pueblo Victoria zogen und am Ende vor einer Wolke beißendem Tränengas in eine Seitengasse geflohen waren, wo wir in einem Hauseingang Schutz suchten …

Mit Blick ins Tal über den Hudson River lebt -Pete Seeger heute in Beacon, einem kleinen Ort knapp zwei Stunden nördlich von New York City, in einem Blockhaus, das er sich selbst gebaut hat. Im hohen Alter von über neunzig darf er sagen: »Ich habe von meiner Musik gelebt. Ich bin für die Menschen aufgetreten, die mit mir singen wollten. Was kann man sich mehr wünschen?«