Jahrhundert der Vertreibung

geschrieben von Axel Holz

9. Juli 2014

Rückblick mit Bezügen auf Gegenwart und Zukunft

 

Das vergangene Jahrhundert wurde durch die Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung von 80 Millionen Menschen begleitet. Der polnische Historiker Jan M. Piskorski, Sohn eines Widerstandskämpfers und Professor für vergleichende Geschichte an der Universität Szczecin, liefert ein überfälliges Buch ab, das nicht aufrechnet, sondern aufklärt. Er trug damit auch kritisch zur Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin bei.

Das 20. Jahrhundert wird gelegentlich als Zeitalter der Vertreibungen bezeichnet. Durch Europa strömten bereits um den Ersten Weltkrieg herum Menschen, die vor ethnischen Verfolgungen flohen. Am Ende des Jahrhunderts wurden Zwangsmigrationen durch den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien ausgelöst, der ethnische Probleme offenbart und zugleich im strategischen Fokus der Großmächte steht. Piskorski legt mit seinem preisgekrönten und auf breiter Quellen- und Literaturbasis geschriebenen Buch die erste europäische Geschichte der Vertreibungen im 20 Jahrhundert vor. Er spricht vom Exodus der Serben 1915, von den sowjetischen Deportationen der 1930er- und 1940er-Jahre, den Vertreibungen der Polen und Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, von der Evakuierung von Kindern aus dem von Bombenangriffen bedrohten London, von der Flucht der Italiener aus Istrien nach dem Krieg und schließlich vom Zerfall Jugoslawiens am Ende des 20. Jahrhunderts.

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Entstanden ist ein engagiertes, informatives und auch provokantes Buch, das einen reichen Fundus an Faktenwissen verarbeitet und zeigt, wie Kriege und gewaltsame Konflikte stringent durch die Vertreibung und Entwurzelung von Menschen begleitet werden. Das trifft für die gesamte Weltgeschichte zu, häuft sich aber in seinem Umfang in den ethnischen, sozialen und politischen Konflikten des 20. Jahrhunderts besonders. Piskorski beschreibt eindrücklich die immer gleichen Szenen in den Erinnerungen der Flüchtlinge in Kriegszeiten: »Angst, seelenlose Gewalt, das Gefühl von Verlorensein und Vereinsamung, Revisionen und Razzien, Durst und Hunger, Kälte oder Hitze je nach Jahreszeit und Klimazone, Viehwaggons und Frachtschiffe, schließlich der Tod, der immer größere Ernte hält, zunächst unter den Schwächsten – Kindern und Greisen.« Vertriebene »sterben still in Straßengräben, überfüllten Waggons, Eisenbahnunterführungen, Übergangs- und Internierungslagern – sie sterben unterwegs«, heißt es bei Piskorski.

Die Übergänge von der Zwangsvertreibung zur sogenannten freiwilligen Auswanderung sind fließend und werden durch die Globalisierung der Prozesse in der Welt weiter verschwimmen. Ab dem19. Jahrhundert waren in knapp 100 Jahren 50 Millionen Menschen aus Europa nach Amerika ausgereist. Nicht alle waren freiwillig gegangen. Viele flohen vor Hungersnot, Perspektivlosigkeit und Armut oder wurden Opfer von profitsüchtigen Schleppern, wie heute noch weltweit. Neu ist im 20. Jahrhundert das Ausmaß von Fluchtbewegungen, Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen in Folge nationaler oder ethnischer Konflikte, als Begleiterscheinung von regionale Konflikten und zwei Weltkriegen. Zu den imperialen Interessen gesellen sich rassistische, nationalistische und ideologische Motive. Piskorski schildert die verschiedenen Verfahren zur vermeintlichen »Homogenisierung der Gesellschaft« und streut gelegentlich seine eigene Familiengeschichte ein. Piskorskis Buch »Die Verjagten« ist zugleich eine Mahnung, sich von nationalistischen Tönen und rassistischen Vorurteilen endgültig zu trennen. Laut UN-Flüchtlingshilfe sind 2014 weltweit über 45 Millionen Menschen auf der Flucht, mit steigender Tendenz. Das Buch »Die Verjagten« ist auch ein Versuch, den Europäern über die eigenen Vertreibungsgeschichten die Dimensionen des Themas wieder bewusst zu machen.