Editorial

geschrieben von Regina Girod

23. September 2014

Je weiter wir uns von historischen Ereignissen entfernen, desto größer wird die Möglichkeit, sie aus ihrem historischen Kontext zu reißen und sie – politischen Interessen folgend – umzuinterpretieren. Wenn keine Zeitzeugen mehr da sind, fehlen ihre Erinnerungen und Erfahrungen als his­torisches Korrektiv. Mit dem Überfall auf Polen am 1. September vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Wir sind froh, in dieser Ausgabe der antifa nicht nur unter dem grundsätzlichen Aspekt der Kriegsschuld an dieses Datum zu erinnern (S.3), sondern unseren Lesern auch die Erfahrungen zweier heute noch lebender Polen vermitteln zu können. Ada Żurawska kämpfte als Kompanieführerin des Frauenbataillons Emilia Plater in der 2. Polnischen Armee an der Seite der Roten Armee und engagiert sich bis heute für eine gerechte Darstel-lung und Bewertung dieses Kampfes (S. 19). Und Alojzy Twardecki, der als Kind Opfer des faschistischen Programms zur »Eindeutschung Fremdstämmiger« wurde, übermittelte mit seinem Erlebnisbericht nachfolgenden Generationen ein einzigartiges Dokument über dieses weithin unbekannte faschistische Verbrechen (S. 25). Doch Twardecki wollte nicht nur Opfer sein. Bis heute setzt er sich für Aussöhnung und Verständigung zwischen Polen und Deutschen ein.

Die zweite Linie, die sich durch diese Ausgabe zieht, widmet sich der Flüchtlingsfrage. Im derzeit geschürten Klima von Ängsten und offen rassistischer Hetze ist es wichtig, den Blick für die Situation der Menschen zu öffnen, die hierher flüchten. Besonders die aus den ehema-ligen Staaten Jugoslawiens kommenden Sinti und Roma werden immer wieder zu rassistischen Feindbildern stilisiert. In unserem »Spezial« (S. 13 – 16) lässt Jürgen Weber die Romafamilie Alisanovic zu Wort kommen, die vor dem Terror von Neonazis aus Südserbien nach Deutschland flüchtete. Dass schon der Großvater der Familie nur knapp der Vernichtung durch die deutschen Nazis entging, interessiert die deutschen Behörden jedoch ebenso wenig, wie sie den aktuellen Fluchtgrund akzeptiert.