Die Kunst des Erinnerns

geschrieben von Thomas Willms

12. November 2014

Patrick Modiano erhielt den Literatur-Nobelpreis

 

Am Abend des 9. Oktober konnte man endlich einmal zu einer 99,9%-Mehrheit in Deutschland gehören: Der soeben als Literatur-Nobelpreisträger ausgerufene Patrick Modiano war einem vollkommen unbekannt. Rasch stellte sich heraus, dass dies außerdem aus antifaschistischer Sicht eine erschreckende Bildungslücke ist.

In Frankreich sehr bekannt, hat Modiano sich seit Jahrzehnten kritisch mit der Okkupationszeit und dem französischen Antisemitismus auseinandergesetzt. In der Begründung des Nobelpreiskomitees heißt es denn auch: »Für die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der (deutschen) Besatzung sichtbar gemacht hat.«

Patrick Modiano: L’herbe des nuits, 168 Seiten, 7,78 Euro, demnächst auf deutsch: Gräser der Nacht, 192 Seiten, 18,90 Euro

Patrick Modiano: L’herbe des nuits, 168 Seiten, 7,78 Euro, demnächst auf deutsch: Gräser der Nacht, 192 Seiten, 18,90 Euro

Modiano wurde 1945 als Kind einer flämischen Schauspielerin und eines französischen Juden, der den Krieg als Schwarzmarkthändler überlebt hatte, geboren. Deren Beziehung ging katastrophal schief, die Kinder landeten in den trostlosen Kinderheimen der 1950er Jahre. Neugierig, innovativ und tapfer hat er diesen persönlichen Ballast in zahlreichen Romanen verarbeitet.

Doch mit welchem anfangen? Sein erstes Buch »La place de l’étoile« von 1968 schockt den Leser gleich zu Anfang mit einem seitenlangen Ausbruch antisemitischer Halbsätze – lieber wieder zuklappen, auch wenn das sicher kritisch gemeint ist. Die Kulturmagazine empfehlen zum Einstieg »Dora Bruder« von 1998, in dem Modiano die Geschichte eines Pariser jüdischen Mädchens bis nach Auschwitz rekonstruiert hat – auch das lieber jetzt nicht.

Also dann das vorletzte und nicht von vornherein politische Buch »L’herbe des nuits«, das der Hanser-Verlag nun im November vorzeitig als »Gräser der Nacht« auf den Markt werfen wird. Und Modiano verzaubert tatsächlich gleich. Stilistisch beeinflusst vom Noveau Roman, aber ohne exzentrische Übertreibungen, taucht man ein in den Gedankenstrom des männlichen Ich-Erzählers. Er beschäftigt sich mit einem jahrzehntealten schwarzen Notizbuch voller Namen, Daten und Zeitungsschnipsel und lässt sich treiben, um merkwürdige Vorkommnisse im Paris der 1960er Jahren zu rekonstruieren. Hier ist alles zunächst denkbar vage: Personen, ihre Beschäftigungen, ihre Verhältnisse. Man ahnt mehr als man weiß, dass der Ich-Erzähler Kontakte zu einem kriminellen oder geheimdienstlichen Netzwerk hatte, bzw. zu einer Frau, die diesem angehörte. Erklärungen werden gefunden und wieder verworfen, banale Antworten auf scheinbar schwierige Fragen gefunden. Die Überreste des Krieges tauchen auf: übriggebliebene Verdunkelungsvorhänge im Hotelzimmer, Gesprächsfetzen über die Befreiung. Alles geschieht auf Straßen und in Hotels und Cafés, Durchgangsstätten, die kein Heimatgefühl aufkommen lassen. Vorhänge werden geschlossen, Lichter angelassen, man schaut durch Fenster und »trifft sich« dauernd ohne dass Fragen beantwortet werden. Die soziale Unbehaustheit kontrastiert mit dem einzig Sicheren, den Straßen und Gebäuden von Paris, durch die der Leser geführt wird. Es ist sowohl das Paris von damals und das von heute, wobei die Sympathien eher dem alten gelten.

Eine »pèlerinage«, wörtlich »Wallfahrt«, wie Erinnerungsaktivitäten in Frankreich gerne genannt werden, ist all das aber gerade nicht. Die scheinbare Sicherheit und Konkretheit auch der schriftlichen Aufzeichnungen – des »schwarzen Heftes« – werden hinterfragt. Man fühlt sich an Jorge Semprun erinnert. Der hatte in verschachtelten Erinnerungsebenen an KZ und Illegalität präzise verschiedene »Selbst« herausgearbeitet, das von 1945, das von 1967 usw..

Auch Modiano inspiziert ein anderes »Ich-Selbst«, das »immer noch alterslos in der Gegend herumsteht« und »dieselben Gesten ausführt«. Aber Modiano ist sich weniger sicher als Semprun, wann er wie was gesehen, empfunden und interpretiert hat. Der Ich-Erzähler fragt sich, ob er seine alte Liebe – wenn sie es denn war – wirklich widersehen will. Der Autor Modiano – eher etwas für Melancholiker.