Der Retter aus Mexiko

3. November 2015

Ein Gespräch über Gilberto Bosques und das historische Gedächtnis

Der mehrfach ausgezeichnete Film« Visa al Paraíso« (Visa ins Paradies) von Lillian Liberman berichtet über das Leben und Wirken des mexikanischen Diplomaten Gilberto Bosques, der als Generalkonsul erst in Paris, dann in Marseille im Vichy-Frankreich zwischen 1940 und 1942 zehntausende Menschen vor dem faschistischen Terror rettete. Er stellte ihnen unter größter Gefahr mexikanische Visa aus. Vor ihrer Ausreise brachte er sie in zwei Schlössern, die mexikanisches Territorium waren, unter. Diese Menschen wurden von den Nazis auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer antifaschistischen politischen Einstellung, als Anhänger der spanischen Republik oder als Inter-brigadisten verfolgt. Unter den durch Bosques Geretteten befanden sich Anna Seghers, Egon Erwin Kisch, Walter Janka, Erwin Reuter, Franz Werfel und viele andere bekannte Persönlichkeiten. Es heißt, dass Bosques 45 000 Menschen nach Mexiko holte und damit ihr Leben rettete. Gilberto Bosques blieb trotz dieser außerordentlichen Leistung ein weitgehend Unbekannter. Lillian Liberman machte es sich zur Aufgabe, diese herausragende Persönlichkeit sichtbar zu machen. Nach einer Aufführung ihres Filmes in der mexikanischen Botschaft in Berlin trafen sich Raina Zimmering und Regina Girod mit ihr zu einem Gespräch.

Zimmering: Warum ist die Geschichte von Bosques für Deutschland interessant?

Liberman: Seine Aktionen waren wichtig für die ganze Welt. Besonders heute ist es sehr wichtig, etwas über seine Werte zu erfahren. Und weil seine Geschichte fast nicht bekannt ist, muss die Welt erfahren, wer er war.

Zimmering: Was inspirierte Sie, diesen Film zu produzieren? Kannten Sie Bosques?

Liberman: Nein. Ich lernte ihn zu seinem 90. Geburtstag kennen. Er befand sich zwischen Scheinwerferlichtern und Mikros. Ich fragte ihn, ob er das wollte. Er sagte, dass er lange genug im Scheinwerferlicht gewesen war, doch dass es ihm heute nicht mehr wichtig ist. Als ich seine Geschichte hörte, verliebte ich mich komplett in sie. Ich wusste, dass es eine außergewöhnliche Geschichte war. Ich dachte noch nicht an einen Film. Ich arbeitete damals über sexuellen Missbrauch von Kindern innerhalb eines Projektes des Erziehungsministeriums und stellte Aufklärungsmaterial für Lehrer und Schüler her. Nach der Begegnung mit Gilberto Bosques entstand nach und nach die Idee, über ihn einen Film zu drehen. Und diese Idee ließ mich nicht mehr los.

Zimmering: Hatten Sie schon von Bosques gehört, ehe Sie ihn trafen?

Liberman: Nein, nicht, niemals. In Mexiko war er nicht bekannt. Es existierte keine Information über ihn, nicht einmal in diplomatischen Kreisen. Er war total unbekannt. Die Historiker schrieben nicht über ihn, obwohl er mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Spanienkrieg zu tun hatte. Für mich war das eine totale Überraschung, dass solch eine Person wie er, so wenig bekannt ist. Für mich bedeutet das einen schweren Verlust des historischen Gedächtnisses. Deshalb beschloss ich, diesen Film zu drehen. Ich erhielt keine finanzielle Unterstützung. Während der Produktion finanzierte ich das Equipment und das Personal selbst. Eine Freundin, die Verlegerin ist, unterstützte mich etwas.

Girod: Es ist für mich sehr interessant, wie man ohne Geld solch einen Film machen kann. Dasselbe machen wir, zum Beispiel im Verein der »Kämpfer und Freunde der Spanischen Republik« von dem viele Mitglieder in der Aufführung waren, auch.

Liberman: Ich habe mein ganzes Leben die Spanische Republik verehrt. Ein Kinderbuch über die Spanische Republik hat mich meine ganze Kindheit begleitet und mein Leben beeinflusst. In Mexiko war die Spanische Republik ein sehr wichtiger Bezug. Mexiko war solidarisch mit der Spanischen Republik. Alle Mexikaner wussten, dass die Spanische Republik niedergeschlagen wurde, aber nicht, wie das geschah.

Girod: Wir sind in der DDR auch mit der Geschichte der Spanischen Republik aufgewachsen.

Liberman: Die Perspektive Russlands im Spanienkrieg war sehr kompliziert. Meine Meinung ist, dass Stalin die Spanische Republik ermordete. Eine sehr traurige Geschichte.

Zimmering: Fühlten Sie sich durch Ihr eigenes Schicksal von der Geschichte Gilberto Bosques angesprochen?

Liberman: Ja es gab Berührungspunkte. Für mich als Jüdin russischer Herkunft, die in Mexiko lebt, war das Schicksal der Juden, die im Zweiten Weltkrieg nach Mexiko kamen, sehr wichtig. Mexiko half den von den Nazis Verfolgten. Sie begannen hier ein neues Leben. Während dieser Zeit gab es in Mexiko ein sozialistisches Projekt und eine sozialistische Erziehung während der Präsidentschaft von Lazaro Cárdenas.

Zimmering: Erzählen Sie uns bitte etwas über den Produktionsvorgang Ihres Films.

Liberman: Ich hatte unheimlich viel Filmmaterial: allein von den Interviews habe ich 7 Stunden und 20 Minuten Filmmaterial: Namen, Ereignisse, Namen, Ereignisse. Es gab so viele Sachen, die so interessant waren. Ich bin nur eine Vermittlerin, keine Autorin bei einem Interview. Mir war klar, dass sich aber die ganze Geschichte nicht allein über Interviews erschließt. Ich suchte in Archiven über die Ereignisse der Zeit und ich suchte Historiker auf, die über die historischen Zusammenhänge berichteten und das Ganze verallgemeinern konnten, z.B. der Historiker Juan Brom (bekannter marxistischer Historiker deutsch-jüdischer Herkunft in Mexiko, 1926 – 2011, Red.). Der Film erzählt nicht einfach die Biographie, sondern ist auch ein Zeitdokument. Ich sammelte über 200 Dokumente und Photographien und am Schluss schnitt ich das heraus, was für den Film wichtig war.

Zimmering: Sicher haben Sie jetzt ein großes Archiv zum Leben von Bosques.

Liberman: Die Mehrzahl der Dokumente befindet sich in dem staatlichen Archiv für Diplomatie und die Photos sind bei der Familie von Bosques. Die Tochter achtet sehr darauf. Das Colegio de México (Mexikanische Akademie der Wissenschaften, Red.) hat mir angeboten, die Fotos zu übernehmen, doch ich beharrte darauf, die Fotos der Familie von Bosques zu überlassen.

Girod: Was mich interessiert ist, ob es in Spanien eine Resonanz zu Bosques gibt?

Liberman: Die Repräsentanz des Franquismus in Spanien ist noch sehr stark. Ich zeigte den Film nur ein Mal im Mexikanisch-Katalanischen Haus der Kultur in Barcelona. In der Diskussion stellte sich heraus, dass man Bosques nicht kannte. Das war eine große Überraschung und gleichzeitig Enttäuschung für mich. In Berlin wurde der Film drei Mal gezeigt. In Frankreich zeigte ich den Film viele Male, in Marseille gleich mehrfach, und es gab ein sehr großes Interesse.

Zimmering: Viele Medien behaupten, dass Bosques der Schindler von Mexiko ist. Was sagen Sie dazu?

Liberman: Dieser Vergleich ärgert mich sehr. Schindler war ein Nazi. Bosques hat damit gar nichts zu tun, im Gegenteil. Er hat einen ganz anderen politischen und moralischen Bezug gehabt.

Girod: 45 000 Menschen wurden durch Bosques aus Vichy-Frankreich gerettet.

Liberman: Das ist übertrieben. Es waren weniger, da insgesamt 45000 gerettet wurden, aber nicht alle durch Bosques, aber es waren sehr viele, man schätzt so um die 20 000.

Zimmering: Bosques hatte zu seiner Zeit trotz seiner enormen Leistungen viele Kritiker im eigenen Land. Wie kommt das?

Liberman: In Mexiko waren nicht alle mit ihm einverstanden, auch nicht der mexikanische Außenminister. Es gab während der Regierung von Lazaro Cardenas innere Diskussionen über die Frage der Aufnahme der Flüchtlinge. Juden waren in Mexiko keine eigene Flüchtlingsgruppe, da nur Herkunftsländer oder politisch Verfolgte anerkannte Flüchtlinge waren, aber nicht ethnische Zugehörigkeiten. Doch Bosques setzte sich darüber hinweg und erteilte in eigener Verantwortung Ausreisegenehmigungen, besonders für jüdische Insassen aus den Internierungslagern. Diese Eigenmächtigkeit nahm man ihm übel. Nachdem Mexiko in den Krieg eintrat, wurden Bosques und alle Konsulatsangestellten von der Gestapo gefangen genommen, einige wurden in deutsche Konzentrationslager gebracht. Bosques kam in Bad Godesberg unter Hausarrest und wurde dann gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht.

Girod: Ist die Tatsache, dass Bosques in Bad Godesberg unter Hausarrest kam, ein Grund dafür, dass er heute in Yad Vashem in Israel nicht als »Gerechter unter den Völkern« geehrt wird?

Liberman: Das ist möglich. Man sagt, dass er sich in Bad Godesberg erholte und sein Leben nicht aufs Spiel gesetzt hatte und deshalb keine derartige Ehrung verdient.

Zimmering: Dass er interniert wurde, heißt nicht, dass Bosques sein Leben nicht aufs Spiel gesetzt hat. Was er getan hat, hatte ihn natürlich gefährdet und er setzte damit sein Leben täglich aufs Spiel. Er hätte auch von der Gestapo ermordet werden können.

Liberman: Genau, auch wenn er Diplomat war, die Nazis respektierten nichts.

Girod: Waren die Migranten im Zweiten Weltkrieg für Mexiko ein Gewinn?

Liberman: Die Migration aus Spanien besonders. Es gab eine kommunistische Partei im Untergrund in den 1950er Jahren. In den 1970er Jahren wurde sie legalisiert.

Zimmering: Ich möchte noch einmal auf die Frage der Rezeption von Gilberto Bosques zurückkommen. In Deutschland ist der Antifaschismus ein wichtiger Punkt des kollektiven Gedächtnisses. Auch lesen die Kinder in der Schule das Buch »Das siebte Kreuz« von Anna Seghers, aber Gilberto Bosques kennen sie nicht.

Liberman: Ich habe der Mexikanischen Botschaft in Berlin eine Kopie des Films überlassen, und sie hat mir versprochen, den Film an Bildungseinrichtungen weiter zu verbreiten.

Zimmering: Wie ist die Rezeption des Films in Mexiko heute?

Liberman: Das ist schwierig. Der Film erhält keine staatliche Unterstützung. Ich zeige den Film auf Dokumentarfilmfestivals und diskutiere ihn in intellektuellen und Fachkreisen. Offiziell gibt es gar nichts, doch es passiert sehr viel außerhalb der offiziellen Medien: ein kleines Denkmal da, eine Büste dort, eine Inschrift da. Man darf nicht vergessen, dass die Geschichte unter den letzten mexikanischen Präsidenten umgeschrieben wurde und dass man an solchen Personen wie Gilberto Bosques kein großes Interesse hat. Ich erhielt letztens Einladungen nach Frankreich und Holland. In Marseille gestaltete der Bürgermeister nach meinem Film eine sehr gute Diskussion zum Leben von Gilberto Bosques. In Frankreich erschien ein Buch über Gilberto Bosques. Nach und nach wird er ins historische Gedächtnis rücken und ich habe einen großen Teil meines Lebens dieser Aufgabe gewidmet.