Auschwitz und die Folgen

geschrieben von Kurt Nelhiebel

5. November 2015

Vor 50 Jahren wurden im Frankfurter Auschwitz-Prozess die Urteile verkündet

 

Ich habe einmal die Bremer Bildungs-Senatorin gefragt, auf welche Weise Auschwitz an den Schulen des Landes Bremen behandelt wird. Frau Dr. Bogedan ließ mich wissen, dass Auschwitz im Kontext der Erinnerungskultur für die Schulen ein wichtiges Thema sei. Bei der Vermittlung des Holocaust müsse aber berücksichtigt werden, dass der Unterricht in Klassen gestaltet werde, deren Schülerinnen und Schüler biografische Wurzeln in zahlreichen anderen Kulturräumen hätten. Das ist natürlich eine Herausforderung. Aber die Lehren der Vergangenheit dürfen deswegen nicht zu kurz kommen.

Was lernen die Bremer Schüler zum Beispiel über Martha Heuer, jene bescheidene Frau aus einem Bremer Arbeiterviertel, die während der Nazizeit mit ihrer Mutter unter Lebensgefahr Menschen jüdischen Glaubens versteckte und vor dem Tode bewahrte? Die Israelis haben sie als Gerechte unter den Völkern geehrt. Ich hoffe, es noch zu erleben, dass eine Straße oder ein Platz nach Martha Heuer benannt wird.

Eine der Erfahrungen des deutschen Widerstandes besagt, dass die Ausgrenzung und Diffamierung von Minderheiten nicht geduldet werden darf; denn damit begann das, was mit Auschwitz endete. Wer sich ein Bild vom Ausmaß des Verbrechens machen will, das in Auschwitz begangen worden ist, der möge sich daran erinnern, dass bei der Tsunami-Katastrophe in Ostasien mehr als Zweihunderttausend Menschen dem blinden Wüten der Naturgewalt zum Opfer gefallen sind. Das Entsetzen darüber war groß. In Auschwitz wurden fünfmal soviel Menschen ermordet. Sie starben von Menschenhand.

Einige Beteiligte an dem beispiellosen Verbrechen mussten sich 1963 in Frankfurt am Main vor Gericht verantworten. Die Verkündung des Urteils in dem Jahrhundertverfahren jährte sich am 19. August zum 50. Male. Ich habe den Prozess als Journalist miterlebt. Wer weiß, was in Auschwitz geschah, ist für immer gefeit gegen alles, was auch nur im Entferntesten mit Nazi-Ungeist zu tun hat. Ohne Erinnerung an das Böse, so Bundespräsident Roman Herzog 1996, gibt es weder die Überwindung des Bösen, noch Lehren für die Zukunft.

Wenn von den Gräueltaten der Nazis die Rede ist, antworten manche, andere hätten sich auch die Hände schmutzig gemacht. Das mag sein. Aber niemals und nirgendwo sonst wurden Menschen so systematisch und in so großer Zahl getötet, wie in den deutschen Vernichtungslagern, nirgendwo sonst wurden den Ermordeten die Goldzähne ausgerissen und zur Devisenbeschaffung eingeschmolzen, nirgendwo sonst wurden die Haare der Opfer zur Filzherstellung verwendet.

 

Gründlich – auch beim Morden

Die Täter mordeten nicht unter Zwang, sie befanden sich nicht in einem Befehlsnotstand, sondern stimmten in ihrem persönlichen Hass auf Juden und Kommunisten völlig mit der Naziführung überein. Dieses freiwillige Mittun ist das eigentlich Unfassbare. Abgesehen davon – Menschen lassen sich manipulieren. Hier schlummert eine Gefahr für die Zukunft.

Ich war als Journalist dabei, als die Überlebenden der Todesfabrik in den Zeugenstand traten und in Gegenwart ihrer Peiniger zu Protokoll gaben, was in Auschwitz geschah. Auf der Anklagebank sah ich Männer mit Durchschnittsgesichtern. Kaufleute waren darunter, Handwerker, Apotheker und Zahnärzte, Menschen wie du und ich. Aber sie verkörperten ein Grauen, das mich bis in den Schlaf hinein verfolgte. Als die Verhandlung begann, war ich Mitte dreißig. Über Auschwitz hatte ich Einiges gelesen. Dennoch erlebte ich den Prozess wie einen Alptraum. Quälend war jedes Mal auch die Rückkehr in den Alltag.

Musste das Leben nicht stillstehen angesichts des Grauens, das eben noch im Gerichtssaal auf mich eingestürmt war? Aber draußen nahm alles seinen gewohnten Gang. Geschäftig wie immer eilten die Menschen hin und her und ihre unbeteiligten Gesichter wirkten auf mich wie Masken aus einer anderen Welt. In den Prozessberichten erfüllte ich meine Chronistenpflicht nach bestem Wissen und Gewissen. Ein neutraler Beobachter war ich nicht. Wenn mir jemand wegen meiner Parteinahme für die Opfer mangelnde Objektivität vorwirft, dann ehrt mich das.

Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen 3 und 14 Jahren und dreimal Freispruch – das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses. Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein menschliches Wort des Bedauerns für die Opfer. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Selbst wenn alle Angeklagten die höchste Strafe bekommen hätten, bliebe Auschwitz ungesühnt.

Es gibt keine Strafe, die dem Unfasslichen gerecht werden könnte. Die nachfolgenden Generationen können nur eines tun: durch ihr klares Nein gegenüber allen Versuchen, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu relativieren, den Opfern ihren Respekt zu erweisen. Damit schützen sie sich selbst vor einem wie auch immer gearteten Rückfall in die Unmenschlichkeit.

 

Der Sündenbock-Mechanismus

Seit der Verkündung des Urteils sind fünfzig Jahre vergangen. Wie verhielt es sich in dieser Zeit mit dem Interesse an Auschwitz? Als mir vor Jahren die Idee kam, meine Prozessberichte der Jugend von heute zugänglich zu machen, ahnte ich nichts von den Schwierigkeiten, mit denen ich zu tun bekommen sollte. Sechs Jahre dauerte meine Suche nach einem Verlag. Dabei machte ich die Erfahrung, dass alle gern von der Notwendigkeit des Erinnerns reden, aber ungern in diese Notwendigkeit investieren.

Zu den Wenigen, die öffentlich immer wieder vor einem Rückfall in frühere Denkweisen gewarnt haben, gehörte Fritz Bauer. Eindringlich beschrieb er, wie es dazu kommen konnte, dass die erste deutsche Republik gewalttätigen Rechtsextremisten in die Hände fiel.

»Statt einer ,Bewältigung der Vergangenheit’, die auch damals notwendig war und die einen harten Willen zur Wahrheit erforderte, zog man den Betrug und Selbstbetrug eines angeblichen Dolchstoßes vor und suchte krampfhaft nach Sündenböcken. Man fand sie bald in ,Marxisten’, bald in Juden. Jeder Sündenbock-Mechanismus erwächst aus Charakterschwäche; er ist ein infantiler Zug und alles andere als eine männliche Reaktion.«

»Je schwächer die Leute sind und je mehr sie von Minderwertigkeits-Komplexen geplagt werden, desto mehr rufen sie nach Härte und desto gewalttätiger und brutaler treten sie auf, um ihr eigenes Ungenügen und das Fiasko ihres Daseins zu verbergen. Die Kraftmeierei des Nazismus, sein Geschrei, seine Demonstrationen, seine Verbrechen, waren die Maske von neidischen Schwächlingen.«

 

Rechts wo die Mitte ist

Während seiner Amtzeit als Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland verlangte Paul Spiegel, beim Kampf gegen die Neonazis nicht bestimmte Entwicklungen in der Mitte der Gesellschaft aus dem Blickfeld zu verlieren; dort gebe es immer noch hartnäckige Vorurteile gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft und anderer Religion.

Wie es in der Mitte der Gesellschaft zur Zeit des Auschwitz-Prozesses aussah, verdeutlichte ein Vorfall kurz nach Prozessbeginn. Ein ehemaliger Spitzenmanager des IG-Farben-Konzerns, der wegen des Einsatzes von Auschwitzhäftlingen zu Sklavenarbeit, zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden war, wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, weil er sich angeblich um den Wiederaufbau verdient gemacht hatte. Als einzige deutsche Zeitung prangerte die antifaschistische Wochenzeitung »Die Tat« den Skandal an. Erst als eine jüdische Zeitung aus der Schweiz bei der Ordenskanzlei in Bonn anrief, musste der Geehrte das Verdienstkreuz zurückgeben.

Zyniker sagen, die Wiederbeschäftigung alter Nazis habe der Demokratie nicht geschadet. Alle hätten sich doch vom Ungeist des Nazismus distanziert. In der Tat hat es an solchen Beteuerungen nicht gefehlt. Immer hieß es, die Bekämpfung des Rechtsextremismus gehöre, wie die Bekämpfung des Linksextremismus, zu den Lehren der Vergangenheit. In Wirklichkeit hatte man hauptsächlich die Linken im Visier, darunter die aktivsten Gegner Hitlers, deren Widerstand gegen die Wiederbewaffnung und die Notstandsgesetze als Widerstand gegen den Rechtsstaat gedeutet und deren Verdienste im Kampf gegen den nazistischen Unrechtsstaat ignoriert wurden.

Die »unbußfertige Verschwörung des allgemeinen Nichtwissens«, die Fritz Bauer bei den Angeklagten im Auschwitz-Prozess beobachte hatte, beschränkte sich nach seiner tiefen Überzeugung nicht auf den Kreis der unmittelbar an den NS-Verbrechen Beteiligten; er hielt sie für ein verbreitetes Phänomen.

Für eine Radio-Bremen-Sendung habe ich den Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsidenten Richard Schmid 1966 gefragt, wie er die Stimmung im Lande beurteilt. Er sagte, das deutsche Volk zeige noch immer die alte Mischung von Intoleranz und Autoritätsglauben und neige zu irrationalen nationalistischen Anwandlungen. Auch sonst gebe es Anzeichen, dass das deutsche Bürgertum das alte Gift noch nicht ausgeschieden habe. Das waren prophetische Worte.

 

Nichts gehört der Vergangenheit an

Vielleicht sollte Bundeskanzlerin Merkel Bundespräsidenten Joachim Gauck gelegentlich daran erinnern, dass sie mit ihrem Satz von der »immerwährenden Verantwortung« für das von Deutschland begangene Menschheitsverbrechen bei den Hinterbliebenen der Ermordeten im Wort steht. Sie haben am schwersten daran zu tragen, dass die Vergangenheit peu à peu entsorgt und der Welt gegenüber gleichwohl der irrige Eindruck erweckt wird, es gebe nach dem deutschen Wirtschaftswunder jetzt auch noch ein deutsches Vergangenheitsbewältigungswunder.

In Wirklichkeit gilt immer noch, was Fritz Bauer unter dem Eindruck einer verbreiteten Indolenz gegenüber der Nazivergangenheit dem deutschen Volk bewusst zu machen versuchte: »Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden. Nichts ist, wie man zu sagen pflegt, bewältigt, mag auch die Öffentlichkeit sich gerne in dem Glauben wiegen, dass ihr zu tun fast nichts mehr übrig bleibe.«