Perversion der Asylpolitik

geschrieben von Laurin Walter

8. Februar 2017

Ein Bericht von der griechischen Insel Lesvos

Lesvos die Insel der Solidarität vom letzten Sommer, auf der täglich Hunderte ankamen und hunderte solidarische Menschen sie in Empfang nahmen, ist nicht mehr da. Die solidarischen Menschen sind noch da, aber scheinbar erstarrt durch die Entwicklungen und den Politikwechsel der Regierung Syriza nach dem EU-Türkei-Abkommen.
Lesvos, dessen  Bewohnerinnen, die Omas und die Fischer, für den Nobelpreis nominiert wurden, hat ein Jahr später, im Oktober 2016, ein anderes Gesicht: Es wird zur Insel der Eingeschlossenen.
6.000 Menschen, die seit Monaten im Hotspot  Moria, im Kara-Tepe-Camp und in anderen von NGOs geführten Unterkünften warten und nicht wissen, wie lange noch. Die Asylprozedur fängt nicht mal an und jetzt, Wochen nach dem letzten Brand im Hotspot, sind die Asylbüros auf unbekannte Zeit ganz geschlossen worden. Nun weiss ich, was das Wort «Hotspot» heißt.
Seit dem 20. März, als das EU-Türkei-Abkommen eingeführt wurde, können neu ankommende Flüchtlinge nicht mehr weiter. Sie werden gezwungen, auf der Insel in den Camps zu bleiben und werden sortiert nach Rückführung oder danach, eventuell irgendwann die Chance zu haben, Asyl zu beantragen.
Auf der Insel ist die Stimmung umgekippt : Hotelbesitzer geben den Flüchtlingen die Schuld an ihren nicht gebuchten Hotels, obwohl jeder weiß, dass sehr viele Hotels aber auch Hausvermietungen, Restaurants usw. seit der Ankunft der Mitarbeiter und Freiwilligen von NGOs, aber auch von Frontex und EASO blühen. Eine Wintersaison, in der alles weiter läuft, gibt es erst seit letztem Jahr. Reisebüros, Autovermietungen, Restaurants, Tankstellen und Supermärkte machen blühende Geschäfte.
Trotzdem, die Stimmung kippt zum Rassistischen: Eltern sperren den Eingang von Schulen, damit  Flüchtlingskinder nicht eingeschult werden. Derselbe Bürgermeister, der sich mit der Solidarität schmückte, verbietet jetzt Hausbesitzern und Hoteliers an NGOs zu vermieten, wenn sie Unterkünfte einrichten wollen. Dörfer demonstrieren gegen die Öffnung einer Minderjährigenunterkunft in ihrem Ort. Als ob ein Tsunami der Abschottungslogik in den Gehirnen der Einwohner gewütet hat, der sie von jedem logischen Denken befreite.
Minister Mouzalas macht öffentlich, dass es die EU ist, die ihm erlauben kann, Flüchtlinge von den Inseln aufs Festland zu bringen. Er gibt damit offen zu, dass die griechische Regierung die Macht über Entscheidungen in ihren Gebieten abgegeben hat. Die Kolonialzeit Griechenlands ist damit eingeführt und wir alle schauen zu und glauben unseren Ohren nicht, aber schweigen.
6.000 Eingesperrte auf Lesvos warten auf ihre Asylinterviews. Die von der EU beschlossene Anzahl von EASO-Beamten, die in Griechenland ankommen sollten, um die Asylanträge aufzunehmen, lässt auf sich warten, Genau 30 von 400 sind seit Monaten da. Genauso wie die Rückführungszahlen von den europäischen Ländern nicht so erfüllt werden, wie sie in dem Abkommen mit Griechenland festgelegt wurden.
In den Hotspots auf den Inseln legen ungeduldige Verzweifelte Feuer, immer wieder. Zur Vermeidung von Unruhen wurde der Hotspot Moria jetzt teils geöffnet. Sogar die Minderjährigen, die bis vor 2 Monaten ganztags und über mehrere Monate eingesperrt blieben, dürfen allein raus gehen und kommen abends auch freiwillig zurück. »Nur« die Neuankommenden und alle die zur Abschiebung freigegeben sind, können nicht raus.
Trotzdem ist die Lage im Hotspot besonders für alleinstehende Frauen nachts unerträglich, viele schlafen auf dem Boden in Zelten, ohne jeden sicheren Raum.
Zufällig haben wir mitbekommen, wie eine sehr alte syrische Kurdin einen ganzen Monat im Hotspot »wohnen« musste, bis sie und ihre Begleitfamilie inclusive einer Hochschwangeren endlich die Papiere bekommen haben, um nach Athen zu gehen. 30 Tage lang hat sich keine der viele NGOs im Hotspot  darum gekümmert, die alte Dame und die schwangere Mutter mit vier Kindern in einer Wohnung unterzubringen.
Im Camp KaraTepe, wo viel bessere Bedingungen und Freiheit herrschen, sind die Menschen trotzdem am Verzweifeln, weil sie nicht von der Insel weg dürfen. Nicht die Kranken, nicht die Alten, nicht Menschen, deren Verwandte in anderen europäischen Ländern sind und Familienzusammenführung beantragt haben.
Schwerverletze, die sich im Krankenhaus behandeln lassen und dann ein Papier brauchen, um nach Athen weiter reisen zu dürfen, um richtig behandelt zu werden, bekommen das Papier nicht, sondern Beruhigungsmittel verschrieben. Es gibt kein Entkommen von der Insel.
Eine alte Dame, die nach ihre Ankunft im Krankenhaus operiert wurde, kämpft seit Wochen darum, einen Befund und eine Bestätigung der OP zu bekommen.  Es wird ihr gesagt: »Leider gibt es kein Papier darüber, dass Sie operiert wurden«. Doch nur mit diesem Papier könnte sie nach Athen fahren und erfahren, ob ihr ein bösartiger oder ein gutartiger Tumor entfernt wurde.
Copyshops weigern sich, alles zu kopieren, was einen offiziellen Stempel hat, Sicherheitsbeamte halten Reisende mit gültigen Dokumente vom Einsteigen auf die Fähren ab und zwingen sie, zum Hotspot zu gehen, um ihre Papiere prüfen zu lassen. Jeder, der nicht weißer Europäer ist, kann es vergessen, ohne tagelangen Ärger legal von der ehemaligen »Insel der Solidarität« wegzukommen. Sogar ein Europaabgeordneter musste sich wegen seiner Hautfarbe einer zweistündigen Kontrolle unterziehen.
Auf der Insel steckengebliebene Flüchtlinge, die Glück haben, werden von ihren Verwandten aus Europa besucht. Die Mutter oder der kleine Bruder werden besucht, um sie zu trösten und ihnen Mut zu machen, dass dieses elendige Warten irgendwann ein Ende nehmen wird. Doch die, die solche Glücksmomente erleben dürfen, sind wenige.
Die meisten verzweifeln irgendwann. Manche verlieren die Geduld, versuchen mit allen Mitteln, sich in LKWs zu verstecken, um mit der Fähre nach Athen zu kommen, trotz der Militarisierung des Hafens haben manche Erfolg. Andere bezahlen dafür viel Geld.
Sie wissen vielleicht nicht, dass sie, wenn sie die Insel verlassen, gleichzeitig ihr Recht auf einen Asylantrag verlieren und zur Abschiebung freigegeben werden. Andere nehmen in ihrer Verzweiflung den gefährlichen Weg zurück in die Türkei, auch das gegen Bezahlung.
Die Regierung kündigt an, ab November 2016 aus Lesvos wöchentlich 200 Flüchtlinge in die Türkei zurückzuführen. Tatsächlich werden seit ein paar Wochen alle zwei bis drei Tage mit von Frontex gemietetenden unauffälligen Tagesausflugsschiffen, Menschen nach Dikili abgeschoben.
Gleichzeitg werden mit der von Frontex gecharterten ASTRA Airline Flüchtlinge aus Syrien nach Adana zurückgeführt. Das alles ohne großes Aufsehen und  ohne große Medienpräsenz. Parallel werden Menschen aus dem Maghreb,  aus Ägypten, Bangladesch und Pakistan mit Schnellverfahren von ihrem Recht auf Asyl befreit, sodass die Schiffe nach Dikili immer Kundschaft haben. Persönliche Asylgründe haben in dieser Prozedur keinen Platz.
Parallel plant die Regierung gegen den Willen der Bevölkerung und des Bürgermeisters die Eröffnung eines neuen Hotspots / Rückführungszentrums. Um die Gegenstimmen zum Schweigen zu bringen, wollen sie den jetzt innerhalb Morias bauen. Sie versprechen sich schnellere Abschiebungen, wenn die Menschen schon vorher eingesperrt sind.
Es ist offensichtlich, das Lesvos eine zentrale Abschiebehochburg wird, weil die griechische Regierung Angst hat, das EU-Türkei-Abkommen zu brechen und dafür zahlen zu müssen. Dass heute in deutschen Medien die Nachricht steht, dass es die EASO und die Asylbehörden der EU-Länder sind, die aus Sicherheitsgründen nicht mehr bereit sind, ihre Beamten nach Lesvos und auf die anderen Inseln zu schicken und sie damit selbst das Abkommen brechen, scheint nicht bekannt zu sein.
Genauso wie bei den Koordinierungstreffen, organisiert von der Inselverwaltung und dem UNHCR, auf denen eines der Dauerthemen »Sicherheit« ist. Aber denkt nicht, dass es um die Sicherheit der Flüchtlinge geht, der jungen Mütter, der Minderjährigen, der alleinstehenden Frauen, es geht um die Sicherheit ihrer Mitarbeiterinnen.
Die Flüchtlinge, eingesperrt an einem unsicheren Ort, haben auch hier in der EU angekommen, keine Rechte. Oder gehört vielleicht Lesvos nicht mehr zur EU? Es könnte sein, dass aus der Insel ein Transitbereich gemacht wurde, in dem die EU- Grenzsicherung im Vordergrund steht. Wer die Perversion der EU-Flüchtlingspolitik beobachten will, muss momentan nach Lesvos kommen.
Ich bin seit vier Monaten auf der Insel und mich begleitet ständig das merkwürdige Gefühl, frei zu sein auf einer Insel, auf der ein Teil der Bevölkerung eingesperrt ist. Eine Art Apartheid der Moderne. Unsere Parole »Freedom of Movement« ist das, was sich jeder Eingesperrte wünscht und »Fähren statt Frontex« auch – aber in die richtige Richtung.

Marily Stroux lebt als Fotografin und Journalistin in Hamburg und auf
Lesvos.

Mehr Informationen unter:
http://infomobile.w2eu.net 
http://lesvos.w2eu.net