Die »Berufsverbrecherinnen«

geschrieben von Anne Allex

17. März 2017

Ein überfälliges Plädoyer für historische Gerechtigkeit

Auf den Treffen Überlebender des KZ Ravensbrück, die Sylvia Köchl seit 1999 besuchte, fiel ihr auf, dass sich hauptsächlich ehemals »Politische« trafen – obwohl immer »aller Opfer« gedacht werden sollte. Wer waren die Anderen? Was hatten weibliche Häftlinge (»Kriminelle«) mit dem grünen Winkel »verbrochen«? Warum wurden sie verschwiegen? Ihre Nachfragen schienen zu provozieren. Dennoch gelang es ihr bei keinem Treffen der Ravensbrückerinnen, auch nur eine einzige Zeitzeugin ehemaliger »Berufsverbrecherinnen« aufzutun. Doch mehrfach fiel der Name der Österreicherin Marianne Scharinger, die viermal wegen § 144 StGB (Abtreibung im österreichischen Strafrecht) verurteilt worden war. Köchls versuchte Akteneinsicht scheiterte. Das Landgericht Wels gab an, dass die Akte nicht mehr dort sei und der Haftgrund in keiner Verbindung zum KZ stehe. Später erwiesen sich diese Angaben als Täuschung: Die Akten gingen erst 2006 zum Oberlandesgericht Linz und wurden dort 2006 »nach Relevanz« aussortiert. Dabei verschwanden viele Unterlagen. Und die KZ-Haft stand in direkter Verbindung zur Verurteilung. Erst nach der Ausstellung »Wege nach Ravensbrück« 2006, nachdem Marianne Scharinger und Aloisa Oppal (ebenfalls wegen § 144 StGB verurteilt) in einer Radiosendung portraitiert worden waren und sie sich mit einem Fragenkatalog an Parteien, Institutionen und Verbände KZ-Überlebender der Relevanz des Themas versichert hatte, kam Sylvia Köchl mit ihrer Suche weiter.

Sylvia Köchl: »Das Bedürfnis nach gerechter Sühne« – Wege von »Berufsverbrecherinnnen« in das Konzentrationslager Ravensbrück, Mandelbaum Verlag, Wien 2016, 340 S., 24,90 Euro

Sylvia Köchl: »Das Bedürfnis nach gerechter Sühne« – Wege von »Berufsverbrecherinnnen« in das Konzentrationslager Ravensbrück, Mandelbaum Verlag, Wien 2016, 340 S., 24,90 Euro

Ausgiebig klärt Köchl im Buch über die Gesetze im »Dritten Reich« auf und weist auf Unterschiede von Zuchthaus (Deutschland) und schwerer Kerkerhaft (Österreich) hin. Letztere enthielt »Fasten-tage« und »hartes Lager«. Sie stellt fest, dass sich mit dem deutschen »Gesetz zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« 1937 der Umgang der Kriminalbeamten mit den Häftlingen maßgeblich verschärfte. In den ersten Tagen der U-Haft wurden die Frauen derart bedroht oder misshandelt, dass einige von ihnen beim entscheidenden Verhör Abtreibungen oder Diebstähle zugaben, die sie vorher nie erwähnt hatten.
Die vorgestellten acht Biografien zeigen fast durchgängig Frauenleben in wirtschaftlicher Not. Weil ihnen die schwanger gewordenen Frauen leid taten bzw. sie selbst auf jeden Pfennig angewiesen waren, nahmen einige von ihnen wiederholt Abtreibungen vor. Andere stahlen zum Überleben Wolle, Stoffe und kleines Haushaltsinventar. Die verhafteten Frauen sahen sich in U-Haft, Prozessen, Kerkern und KZ fast ausnahmslos gut verdienenden männlichen Polizeibeamten, Rechtspflegern, Wärtern, Richtern und Justizangestellten gegenüber, die ohne Gnade gegen sie agierten. Denn inzwischen galt im »Deutschen Reich« (Österreich ab 1938) das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs für »arische« Frauen. Die faschistische »Volksgemeinschaft« sah sich der »Aufartung« der »arischen Rasse« verpflichtet. Im Verfahren der ältesten Frau wurde sogar die Todesstrafe erwogen. Gnadengesuche Familienangehöriger der Abtreiberinnen wurden allesamt abgewiesen. Sie kamen ausnahmslos ins KZ. So kam Rosina Schmidinger mit 74 Jahren ins KZ; sie überlebte nur zwei Wochen.
Heraus stechen die Angaben über Marianne Scharinger, die wegen wiederholter Abtreibungen bei anderen Frauen zu schwerem Kerker verurteilt war und nach Abbüßung der Strafe 1941 ins KZ Ravensbrück kam. Sie war zunächst Blockälteste in Block 10 und 11, später Lagerälteste. Scharinger gehörte zu denjenigen mit dem Grünen Winkel, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten korrekt verhielten, die Häftlinge beschützten und sogar politische Aktivitäten des Lagerkomitees deckten. Dennoch saß sie vom 31. August 1947 bis März 1948 in U-Haft, weil gegen sie als »Funktionshäftling« eine Anzeige wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorlag. Sofort nach der Verhaftung wandte sich ihr Mann hilfesuchend an ihre Ravensbrücker Kameradinnen, mit denen sie Briefkontakt hatte. Während ihrer U-Haft wurde ihrem 22-jährigen Sohn wegen des schlechten Leumundes seiner Mutter die Ausbildung bei der Polizei zu Ende 1947 gekündigt. Die ehemaligen Häftlingsfrauen ihres Blockes sandten Stellungnahmen an die zuständigen österreichischen Behörden und bewahrten Scharinger vor erneuter Haft.
Aufschlussreich sind Köchls Erkenntnisse zum Umgang mit »kriminellen« Frauen bei der Opferrentenbeantragung. Nur zwei Frauen gelang die Anerkennung der KZ-Zeit für eine Rente. Einer Frau wurde die Rente nach einer erneuten Abtreibung ganz genommen, ihrem jungen Sohn sofort das erhöhte Ausbildungsgeld gestrichen, das er wegen der politischen Verfolgung des Vaters erhielt. Obwohl in Österreich viele Menschen für Entschädigungsrenten für alle ehemaligen KZ-Häftlinge votierten, unterließen Institutionen nichts, um ehemalige »Kriminelle« und »Asoziale« davon auszunehmen. Das Buch zeigt, dass bis heute mit sozialrassistischen Argumenten »Kriminelle« und »Asoziale« von Haftentschädigung ausgeschlossen sind. Umso unterstützenswerter ist die Forderung am Schluss des Buches, dass das Entschädigungsgesetz in Österreich für diese Personenkreise zu öffnen ist – auch jetzt noch.

 2009 öffnete sich die Lagergemeinschaft Ravensbrück den als »asozial« verfolgten Frauen. Köchl fielen verletzende Angaben, abwertende Bemerkungen und massive Vorbehalte zu »Schwarzen« und »Grünen« auf. Gängig waren Äußerungen wie: »Die kannten keine Solidarität«, »Die waren von der SS nur zum Mürbemachen der Politischen dort eingesperrt«, »Die haben immer nur geklaut« Nur zwei Kommunistinnen im KZ hatten sich für Haftgründe der Schwarz- und Grünwinkligen interessiert; die beiden berichteten auch von solidarischem Verhalten.