Orte der Shoah in Polen

geschrieben von Gerald Netzl

23. März 2017

Ein kritischer Diskurs über Gedenkorte und Erinnerungskultur

Polen betreut ein schwieriges Erbe. Eine Vielzahl von Gedenkstätten erinnert an die Ermordung der europäischen Juden während der deutschen Besatzung. Im Buch »Orte der Shoah in Polen« werden ausgewählte Orte vorgestellt und diskutiert: Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka, Majdanek, Płaszów und Oświęcim repräsentieren verschiedene Phasen, Formen und Bedingungen der Shoah. Sie haben zudem eine individuelle Nachgeschichte und unterscheiden sich auch heute durch ein jeweils eigenes Erscheinungsbild.
Der Band vermittelt einen Überblick über die Geschichte dieser Orte und fragt nach der Wechselbeziehung zwischen den historischen Ereignissen und der Gestaltung der Orte von 1943 bis in die Gegenwart. Ergänzt wird die Auseinandersetzung mit den Gedenkstätten durch übergreifende Texte, die etwa nach der Rolle der Fotografie in Ausstellungen, der Problematik des sprachlichen Umgangs mit der Shoah und der Würde von Opfern und BesucherInnen in Gestaltungskonzepten fragen. Der Autor dieses Artikels hat 2012 und 2014 die meisten der diskutierten Orte besucht.
In Oświęcim und in Lublin-Majdanek wurde mit den baulichen Hinterlassenschaften der Deutschen gearbeitet, nicht so in Chełmno und den drei Massentötungsorten der »Aktion Reinhard«, wo durch die Täter vor Eintreffen der Sowjetarmee alle Spuren des Massenmordes verwischt wurden. In Bełżec, Sobibór und Treblinka wurden Mitte der 1960er Jahre, in der Zeit der polnischen Volksrepublik, reine Friedhofsanlagen gestaltet, ohne Museum oder Informationsangebot. Die sowjetische, und von Polen übernommene, Position, die Shoah nicht als ein explizit antisemitisches Verbrechen zu deuten, sollte lange Bestand haben. Im Juni 2004 wurde mit US-amerikanischer Finanzierung in Bełżec als erste eine neue, gelungene Gedenkstätte inklusive Museum eröffnet. Zwei Aspekte der Repräsentation müssen miteinander verbunden werden: die Geschichte des Ortes als Tatort und die Funktion des Ortes als Friedhof. In Sobibór wird aktuell an einem Museum gearbeitet. Für das gesamte Areal gilt, dass das Gedenken wichtiger ist als das Lernen über den Ort. Das Museum ist als Ergänzung zur Gedenkstätte gedacht.
Viele BesucherInnen haben eine »Sehnsucht nach Sinn«, bei der künstlerischen Gestaltung der Gedenkstätten kann es jedoch gerade nicht um Sinnstiftung gehen, sondern vielmehr darum, die Sinnlosigkeit dieses monströsen Verbrechens vor Augen zu führen. Die Begegnung mit Orten der Shoah ist durch ihre Intensität, Vielschichtigkeit, Materialität und Konkretheit aber vor allem anderen die Gelegenheit, eigene Erwartungen, Wissensstände und Haltungen zu überprüfen.
Was kann man durch den Besuch eines Ortes der Shoah eigentlich lernen, was nicht auch durch Fachliteratur, in Filmdokumentationen oder Ausstellungen angeboten wird? »Betroffenheitspädagogik«, die mit Überwältigung, Furcht und Mitleid arbeitet, trägt nicht zur Auseinandersetzung mit dem Thema bei. Schlimmstenfalls kann die Konfrontation mit Furcht, Grausamkeit und Schrecken gar zu gänzlich unintendierten, konträren Reaktionen führen. Für große Teile der BesucherInnen (im Beitrag sind Museum Auschwitz und Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau gemeint) »schrumpft die Geschichte des Lagers auf stereotyp gewordene Metaphern des Grauens zusammen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beschränkt sich darauf, dieses Grauen sehen zu wollen, um sich rhetorisch davon zu distanzieren.«
Auf die Beiträge zu den einzelnen Orten wird in diesem Artikel nicht weiter eingegangen, die sollen im Buch nachgelesen werden, Fotos und Grundinformationen bietet etwa Wikipedia. Von den eingangs erwähnten ergänzenden Texten haben mich zwei am nachdenklichsten gemacht: »Die Sprache der Shoah: Verschleierung – Pragmatismus – Euphemismus«. So sollte man etwa statt »Vernichtungslager« den Terminus »Massentötungsanlagen« verwenden. »Zwischen Pilgerfahrt und Bildungsreise – Israelisches Gedenken an den ehemaligen nationalsozialistischen Tötungsorten der Shoah« wirft einen kritischen Blick auf die Praxis der Polenreisen israelischer SchülerInnengruppen.