»Motor der Veränderung«

geschrieben von Heinrich Fink

4. Mai 2017

Avantgarde-Kunst zur Oktoberrevolution in Chemnitz

Die Kunstsammlungen Chemnitz luden zu einer Ausstellung »Revolutionär!« (mit Ausrufezeichen) der russischen Avantgarde aus der Sammlung Vladimir Tsarenkov.
Der Termin der Ausstellung war für den aufmerksamen Zeitgenossen nicht frei von der Vermutung, daß er im Zusammenhang mit dem Datum »100 Jahre Oktoberrevolution« gewählt wurde. die »Revolutionäre« sind die russischen Künstler aus der revolutionären Kunstszene, die sich »Futuristen« nannten. Wladimir Majakowski soll zum Ereignis der Oktoberrevolution argumentiert haben »Anerkennen oder Ankommen war für mich keine Frage. Das war meine Revolution.«
Revolutionär!Die erste Aufforderung Lenins an die futuristischen Künstler unterschiedlicher Richtungen wurde spontan angenommen – sich mit ihrer Kunst an der Revolution zu beteiligen. Damit wurde die Oktoberrevolution zu einer Kulturrevolution. Das wird in dieser Ausstellung sehr deutlich. Die Kulturrevolution der Künstler war der »Motor der Veränderung Rußlands«, so Heinrich Vogeler.
Der erste umfassende Auftrag der Partei war die Ausgestaltung von großen öffentlichen Plätzen, besonders von Petrograd und Moskau. Für Petrograd wurde für den Revolutionsfeiertag im November 1918 ein Kunstwettbewerb ausgeschrieben, an dem sich nahezu 500 Künstler beteiligten, darunter auch einige, die in der Ausstellung in Chemnitz zu sehen sind.
Allein in Moskau wurden von 1918 bis 1921 25 Denkmale und über 500 Gedenktafeln geschaffen. Die große Bereitschaft vieler Künstler war verblüffend. Die Frage bleibt, ob sie von der Politik der Revolution ebenso bewegt waren. Jedenfalls kann der Beobachter in der Chemnitzer Ausstellung den Eindruck bekommen, daß die politische Überzeugung der Künstler mit ihren revolutionären Arbeiten übereinstimmt.
Leider ist diese Ausstellung trotz einmaliger Verlängerung immer noch zu früh beendet worden. Aber als Dokument bleibt der sehr gut konzipierte und gestaltete Katalog von 421 Seiten, verlegt im Sandsteinverlag.
Die in dieser Ausstellung präsentierte Auswahl umfasst die Zeit von 1917 bis 1930, von der Marc Chagall meint, sie wäre die produktivste Zeit der Kunst in Russland gewesen. Den Verfassern und Gestaltern dieses Katalogs ist für ihre Arbeit zu danken, damit das Interesse für die revolutionäre Kunst in Russland geweckt zu haben.
Es ist nur zu bestätigen, was die Herausgeberinnen, Ingrid Mössinger und Britta Milde, schreiben: »Mit ›Revolutionär! – die russische Avantgarde aus der Sammlung Vladimir Tsarenkov‹ ist es uns im Rahmen unseres internationalen Ausstellungsprogramm erneut gelungen, eine repräsentative Epoche russischer Kunst auf höchstem Niveau zu zeigen. … Die Sammlung … zeigt die außergewöhnliche Vielfalt der russischen Kunst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts am Beispiel von rund 400 Werken von 110 Künstlern … Schmerzlich wurden wir in unserem Hause an die etwa 1000 Verluste während des Nationalsozialismus erinnert, wie z.B. das Aquarell »Skala« (1928) von Kandinsky und Lithographien von Jawlensky.
Eine Besonderheit der Chemnitzer Ausstellung ist das sogenannte Agitationsporzellan, das uns in den Zeitgeist jener Jahre führt. In der Zeit des noch verbreiteten Analphabetismus lesen wir auf den Tellern sehr eindrücklich gemalt: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« Oder »Hast Du Dich schon als Freiwilliger gemeldet?« Oder der einfache Aufruf gegen die Hungersnot unter dem gemalten Hammer und Sichel: »Hast Du schon geholfen, Hunger zu stillen?«
Die Porzellansammlung zeigt gegossene Rotarmisten, Arbeiterinnen mit umgebundener Schürze und Sportler.
Sehr gut mit anzusehen sind Schachspiele, z.B. mit Figuren der Roten und der Weißen. Der König der Weißen hat die Gestalt des Todes. Ihm liegen statt Bauern gefesselte Sklaven zu Füßen. Auf der Seite der Roten findet man Arbeiter und Bäuerinnen, beschützt von Rotarmisten.
Der Katalog gibt einen hervorragenden Einblick in die Arbeit der russischen Avantgarde mit ihrer Botschaft für die Zukunft »Nahrung für alle« und ihrer Hoffnung, daß die revolutionäre Kunst einen kulturellen Bestand haben soll. Sie begriff sich und ihre Kunst als futuristisch, was sie meinten, es wäre die Zukunft auf dem Wege der Erfüllung. Sie wollen ein neues, gemeinsames Leben mit neuen Menschen, in dem Gemeinschaft für alle gleichberechtigt wächst und gedeiht.
So trugen auch bildende und angewandte Kunst ebenso wie das sowjetische Theater und die Filme von Eisenstein dazu bei, dass viele Menschen außerhalb Russlands – von den Arbeitern bis zur Intelligenz – die Entwicklungen in Sowjetrussland mit Interesse und Sympathie verfolgten.
Es war eine gute Idee, mit dieser Ausstellung an das 100. Jubiläum der Oktoberrevolution zu erinnern.