Geschichtsvergessen

geschrieben von Peter Fischer

8. Februar 2018

Das bittere Beispiel des Außenlagers Lieberose

Das KZ-Außenlager von Sachsenhausen mit der Kurzbezeichnung »Liro« wurde nach dem ehemaligen »Staatsbahnhof Lieberose« benannt. Es diente ab Ende 1943 dem Ausbau des Waffen-SS-Truppenübungsplatzes »Kurmark«.

Zunächst kamen die Arbeitssklaven aus den KZ Groß Rosen sowie aus dem Stammlager Sachsenhausen. Unter denen, die dorthin deportiert wurden, waren zunächst überwiegend sowjetische Kriegsgefangene und Häftlinge aus Polen; später zunehmend jüdische Transporte über Auschwitz aus Ungarn. Auch Juden aus Deutschland waren unter ihnen. Zudem sind Norweger, Belgier, Franzosen, auch eine Anzahl unmittelbar aus dem KZ Sachsenhausen in Arbeitskommandos abkommandierte politische Gefangene und holländische Zwangsverpflichtete in Bestands-, Transport- oder Zugangslisten zu finden; insgesamt über die Zeit der Lagerexistenz Menschen aus 18 Nationen. Über ein Fünftel der in das »KZ-Liro« überstellten Lagerinsassen waren noch keine Erwachsenen. Die Gesamtzahl der Insassen kann acht- oder neuntausend Menschen betragen haben. Annähernd 4.000 nicht mehr arbeitsfähige Menschen sind durch »Selektionen«, im infrastrukturellen Verbund monatlicher Sammeltransporte per Eisenbahn, zurück nach Auschwitz in den Tod verbracht worden.

Bei der Auflösung des KZ-Zwangsarbeitslagers Anfang Februar 1945 ermordeten SS-Leute unter dem Befehl des Lagerführers Wilhelm Kersten im Bereich der sogenannten »Schonungsblöcke« alle 1.342 marschunfähigen Häftlinge. Dieses KZ-Außenlager von Sachsenhausen gilt uns deshalb direkt als Ort der Schoah. Nur etwa 90 km Luftlinie vom Brandenburger Tor entfernt, unmittelbar vor den Toren Berlins!

In den Wochen zuvor waren schon mehrere Eisenbahntransporte mit Häftlingen aus Lieberose ins Stammlager Sachsenhausen abgegangen. Etwa 1.700 »Marschfähige« sind auf dem Todesmarsch acht Tage lang u.a. durch Teupitz, Zossen, Ludwigsfelde, Potsdam, Falkensee nach Oranienburg ins KZ-Sachsenhausen gejagt worden. Viele junge Menschen wurden gleich nach der Ankunft umgebracht. Von dort wieder in Transporte getrieben, fanden in den Todeslagern Bergen-Belsen, im KZ-Mauthausen oder in einem seiner örtlichen Nebenlager noch viele der aus Lieberose gekommenen Menschen den Tod. Lediglich 320 Juden aus Ungarn, nach anderen Angaben insgesamt nur höchstens etwa 500 Menscheni überlebten die Befreiung im Jahr 1945.

Bauliche Überreste des »KZ-Liro« flossen, nach Schließung des NKWD-«Speziallagers« an identischer Stelle, 1947 der Baustoffversorgung für Übersiedler aus dem vormaligen Osten des Deutschen Reiches zu. Auf dem von Tod, Not und Leid durchdrungenen Lagergelände entstanden Siedlungs- und Wochenendhäuser. Selbst die Mord- und Bestattungsstätten wurden ignoriert. Obwohl man fünfzehn der Mordopfer – wahrscheinlich das Bestattungskommando der Anfang Februar 1945 Erschossenen – 1958 in einer zweieinhalb Kilometer entfernten Kiesgrube an der B 320 Richtung Staakow fand, dauerte es bis 1971, dass – wieder zufällig – nur wenige Meter entfernt, ein Massengrab mit sterblichen Überresten von 577 ermordeten Menschen entdeckt wurde. Es handelte sich wahrscheinlich um das größte je auf deutschem Nachkriegsterritorium entdeckte Massengrab ermordeter KZ-Häftlinge. Fundobjekte belegten Herkunft und Religion der Ermordeten. An die Hinzuziehung eines Vertreters der jüdischen Gemeinde ist dennoch nicht im Entferntesten gedacht worden. Die vielerorts nach dem Krieg nachweisbare Missachtung beim Umgang mit den Opfern wurde durch die nichtdokumentierte Einäscherung im Krematorium Forst bestätigt. Unabhängig davon sollten die Toten keinesfalls am Fundort belassen und dort geehrt werden. Sicherlich spielte die Tabuisierung der Nachkriegsnutzung des NKWD-Lagers auf dem Areal des früheren KZ in Jamlitz eine Rolle. So wurde einige Kilometer entfernt bei der Stadt Lieberose ein DDR-typisches antifaschistisches Mahnmal angelegt, mit einem Ring-Grab für die sterblichen Überreste von 577 Opfern, in das lediglich eine (!) Urne (de-) platziert wurde.

Grund genug, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland den authentischen Ort in der Siedlung Jamlitz ins Blickfeld nahm. Doch erst nach Mitte 2003 konnte – am oberen Ende der sich im märkischen Sand verlaufenden früheren Lagerstraße – eine Freiluft-Ausstellung zur historischen Aufklärung der Vor- und Nachkriegs-Geschehnisse (rechts- und linksseitig getrennt) installiert werden.

Heute gibt es Übereinkommen, die bestehende Ausstellung dort weiter zu vertiefen und zuvor, bis zum Frühjahr 2018, endlich ein Gedenkareal zu gestalten. Noch offen ist das Einverständnis, mit einer zusätzlichen Tafel die problematische Symbolik des Denkmals in Lieberose zu kommentieren. Ebenso soll mit der Aufstellung von Informationstafeln am Zugang zum und vor dem Bahnhofsgebäude beispielhaft das Schicksal jugendlicher Opfer behandelt werden.

Dr. Peter Fischer vertritt ehrenamtlich den Zentralrat der Juden in Deutschland in der Gedenkstättenarbeit.