Ein Leben mit Widersprüchen

geschrieben von Ulrich Schneider

13. Mai 2022

Vor 38 Jahren starb Martin Niemöller

»Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.«

Mit diesem berühmten Satz beschrieb der evangelische Pfarrer Martin Niemöller die Ambivalenz und Brüche seines politischen Denkens und Handelns in der NS-Zeit.

Martin Niemöller, den heute viele als Antifaschisten in Erinnerung haben, war von seiner Biographie her nun wirklich nicht der Inbegriff eines Widerstandskämpfers. Geboren 1892, aufgewachsen und geprägt in der Kaiserzeit, erlebte er den Ersten Weltkrieg als U-Boot-Kommandant. Bevor er in der Weimarer Zeit den Weg auf die Kanzel fand, machte er einen »politischen Ausflug« in die Freikorps und ließ sich – schon als Pfarrer – von der NSDAP beeindrucken. Er repräsentierte damit den Typus der Protestanten, die in ihrer überwiegenden Mehrheit die Errichtung der NS-Herrschaft 1933 begrüßt hatten. Trotz dieser Nähe geriet Pfarrer Niemöller in Widerspruch zum Naziregime, als der Faschismus an der Macht mit seiner Kirchenpolitik in jene Bereiche eingriff, die Niemöller als originär kirchlich ansah, nämlich kirchliche Selbstverwaltung, Glaubensgrundsätze und Liturgie. Als er diese Grundlagen bedroht sah, gründete er im September 1933 den Pfarrernotbund. Es war für ihn kein Widerspruch, die NS-Kirchenpolitik abzulehnen, aber Führerprinzip und Antisemitismus gegenüber offen zu sein, wie seine »Sätze zur Arierfrage« zeigten. Aus dem Pfarrernotbund entstand im Frühjahr 1934 auf der Barmer Synode die »Bekennende Kirche«.

Da das Naziregime eine innerkirchliche Opposition nicht tolerierte, geriet Niemöller in Widerspruch zum NS-Regime, das ihm 1937 den Prozess machte. Zwar endete das Verfahren mit Freispruch, als »persönlicher Gefangener« Hitlers wurde er jedoch für acht Jahre ins KZ Dachau verschleppt. Es gehört zu den vielen Brüchen in seinem Leben, dass sich Martin Niemöller im September 1939 – trotz Verfolgung und KZ-Haft – in einem Brief an Hitler freiwillig zum Marineeinsatz als U-Boot-Kommandant meldete – die Nazis legten jedoch keinen Wert auf sein Engagement.

Martin Niemöller 1952 (Foto: J. D. Noske)

Martin Niemöller 1952
(Foto: J. D. Noske)

1945 durch die US-amerikanischen Truppen in Dachau befreit, geriet er wegen »reaktionärer Grundhaltung« auch in Konflikt mit der neuen Obrigkeit. Dass seine Haltung vielschichtiger war, bewies Martin Niemöller in öffentlichen Erklärungen in dieser Zeit, in denen er – in konsequenter Interpretation des von ihm mitformulierten »Stuttgarter Schuldbekenntnisses« von 1945 – eine inhaltliche Umkehr von Kirche und Christen forderte. »Wir sind in die Irre gegangen …« – dieser Gedanke aus dem »Darmstädter Wort« von August 1947 wurde sein Leitmotiv in der Nachkriegszeit.

Obwohl er lange Jahre im KZ Dachau inhaftiert war, wurde Martin Niemöller, der mittlerweile Repräsentant der evangelischen Landeskirche von Hessen und Nassau war, von den ehemaligen politischen Häftlingen äußerst kritisch betrachtet. Man hielt ihm seine früheren antisemitischen Überzeugungen vor und das Eingeständnis, bis 1933 die NSDAP gewählt zu haben. Trotz einer Ehrenerklärung des Berliner Präses Kurt Scharf für Niemöller und, wie der damalige Landesvorsitzende der VVN Hessen Hans Mayer 1947 meinte, völlig lückenhaftem Beweismaterial, lehnte der Landesvorstand die Aufnahme von Martin Niemöller in die VVN ab. Eigentlich wollte man mit solchen Verfahren verhindern, dass ehemalige NS-Mitläufer unberechtigt als Verfolgte des Naziregimes anerkannt wurden.

Wie falsch die VVN damals lag, bewies Pfarrer Niemöller, als er sich in den 50er-Jahren als konsequenter Mitstreiter für das antifaschistische Anliegen und die Sache des Friedens erwies. Voll Überzeugung wandte er sich gegen Antikommunismus und Spaltungspolitik. Lange vor Bundeskanzler Konrad Adenauer reiste er 1952 als einer der ersten Prominenten aus dem Westen in die Sowjetunion. Er engagierte sich als Christ gegen die Remilitarisierung in der BRD und die Atombewaffnung der Bundeswehr.

Auch zur VVN entwickelte er ein neues Verhältnis. Als die Bundesregierung Ende der 50er-Jahre versuchte, die Organisation zu verbieten, stellte sich Martin Niemöller öffentlich auf ihre Seite. Im Frühjahr 1962 sprach er auf der zentralen Kundgebung zum 15jährigen Bestehen der Organisation in Frankfurt am Main. Seit dieser Zeit war er in vielfältiger Weise mit der VVN aktiv, zuletzt als Mitglied des Ehrenpräsidiums. Immer wieder trat er aus christlicher Überzeugung mit klaren politischen Botschaften an die Öffentlichkeit. »Was würde Jesus dazu sagen?« Diese Frage nannte er in einem biografischen Film sein Lebensmotto.

Martin Niemöller blieb bis ins hohe Alter besonders in der Friedensfrage aktiv. Von der Christlichen Friedenskonferenz bis zum Krefelder Appell – immer wieder war er präsent, er wurde gerufen, und er ließ sich rufen. Er war damit ein Symbol der Friedensbewegung. Am 6. März 1984 starb er im Alter von 92 Jahren.