Mit dem Heute verbinden

geschrieben von Ulrich Schneider

13. Mai 2022

Studie zu Zugängen junger Deutscher zur NS-Geschichte

Alle Jahre wieder werden in unserem Land Jugendstudien durchgeführt. Möchten doch Werbewirtschaft und Politik wissen, was junge Menschen bewegt und wo sie mit ihrem Marketing ansetzen können. Die Soziologie kreiert dabei Bezeichnungen wie »Generation Golf«, »Generation Y« (auch Generation »Why«), mit denen bestimmte Geburtsjahrgänge bezeichnet werden, von denen man annimmt, dass sie über ein vergleichbares Weltbild verfügen. Nunmehr ist man bei der »Generation Z« angekommen, wenn man von den heute 16- bis 25-Jährigen spricht.

Aber es sind nicht nur Marketinginstrumente, sondern auch historisch interessante Themen, die bei solchen Befragungen behandelt werden. So veröffentlichte Mitte der 1980er-Jahre die Frankfurter Rundschau eine Studie, nach der über 80 Prozent der jungen Menschen in der BRD den antifaschistischen Widerstand – und zwar nicht nur den 20. Juli 1944 oder die »Weiße Rose« – für sich als verdienstvoll und vorbildlich betrachteten. Da die Distanz zum historischen Gegenstand heute noch einmal deutlich größer geworden ist, beauftragte Arolsen Archives vor gut einem Jahr das Befragungsinstitut »rheingold« mit einer tiefenpsychologischen Studie zur Haltung der »Generation Z« zur NS-Zeit, deren Ergebnisse Ende Januar 2022 vorgestellt wurden.

Es ging um die Bedeutung des Themas für die junge Generation und darum, wie anschlussfähige, zeitgemäße Zugänge zum Thema Nationalsozialismus zu finden seien, wie es in der Zusammenfassung der Studie heißt. Die Studie stützte sich auf zwei Befragungszugänge: Zum einen fanden vertiefende, mindestens zweistündige Gespräche mit 100 Proband*innen, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 16 bis 25 Jahren, und – als Vergleichsgruppe – Erwachsenen zwischen 40 und 60 Jahren statt, zum anderen gab es eine quantitative Erhebung mit über 1000 Jugendlichen und Erwachsenen. Nach Aussagen des Instituts sei die Studie auf dieser Grundlage repräsentativ für Alter, Geschlecht und Region in den jeweiligen Altersklassen.

Aus antifaschistischer Perspektive ist das Ergebnis überraschend positiv: 75 Prozent der Befragten gaben an, sich für NS-Geschichte zu interessieren. Das sind deutlich mehr als in der Vergleichsgruppe der Elterngeneration. Das Institut spricht dabei von einer enormen Faszination, aber auch Unheimlichkeit dieses Themas bei der »Generation Z«. Für das Interesse sehen sie drei Gründe: Erstens sei man frei von persönlicher Schuld, zweitens verstehen sie die NS-Zeit als Gegenbild zu der sie umgebenden Gesellschaft, und drittens erleben sie ihre eigene Beschäftigung mit den Verbrechen dieser Zeit als eine »Art psychologische Mutprobe«.

Wichtiger ist jedoch, dass junge Menschen das Thema NS-Zeit für sich mit aktuellen Problemen in der Gesellschaft wie Rassismus, Ausgrenzung, Spaltung und extreme Rechte verbinden. Fast die Hälfte der Befragten sieht Bezüge aktueller politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen zur NS-Geschichte, ohne jedoch Gleichsetzungen vorzunehmen.

Zentral ist dabei das Thema Rassismus. Die Empfänglichkeit für rechte Ideologien, Fake News, das Aufkommen von Verschwörungstheorien, Antisemitismus und die zunehmende Aggression sind weitere aktuelle Themen, die von jungen Menschen mit der NS-Zeit verbunden werden. »rheingold« betont, dass auch Befragte mit Migrationshintergrund Zugänge zur NS-Zeit haben, wobei sie zum Teil ihre eigenen Erfahrungen mit Alltagsrassismus als Parallele zur Vergangenheit sehen. Sie würden Deutschland zwar als ihre Heimat anerkennen, fragten sich aber, wie individuell sie sein dürften oder inwieweit sie sich anpassen müssten.

Eine Fragestellung der Untersuchung war, zentrale Barrieren für die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zu ermitteln. Interessant ist, dass eine Mehrheit kritisierte, dass die NS-Geschichte nur von der Opferseite her beleuchtet wird. Sie wünschte sich mehr Perspektiven. Junge Leute interessieren sich auch für die Täter, welche Ideo-
logien und Weltanschauungen Menschen dazu befähigen konnten, solche Menschheitsverbrechen zu begehen.

Was in der präsentierten Studie komplett fehlt –
und anscheinend auch nicht in der Befragung thematisiert wurde –, war ein Perspektivwechsel in Richtung auf die Frauen und Männer, die unter Einsatz ihres Lebens, ihrer Gesundheit oder ihrer Freiheit, sich an den verschiedenen Formen des antifaschistischen Widerstands beteiligt hatten. Umso wichtiger sollte es für Antifaschisten sein, in ihrer geschichtspolitischen und Erinnerungsarbeit das große Interesse der jungen Generationen an der Thematik NS-Zeit durch eine Öffnung des Blicks für diese Perspektive zu nutzen. Dabei bietet die Beschäftigung mit dem antifaschistischen Widerstand auch ein Potenzial zur positiven Identifikation.

Die Studie ist unter enc.arolsen-archives.org/studie nachzuvollziehen.