Bis der letzte nicht mehr lebt

geschrieben von Jürgen Weber

5. September 2013

Die Mörder von Sant’Anna di Stazzema bleiben geschützt

März-April 2013

Die Szene auf dem Vorplatz der Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart ist bezeichnend für die Ermittlungen zum Massaker von Sant’Anna di Stazzema. Die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke wird mit ihrem 79jährigen Mandanten, Enrico Pieri, auf dem Weg zur Übergabe der Beschwerdebegründung aufgehalten. Ein Polizeihauptkommissar tritt auf sie zu und erklärt, dass nur die Rechtsanwältin, nicht jedoch der aus Italien angereiste Nebenkläger zur Übergabe ins Gebäude gelassen werde. Enrico Pieri muss draußen bleiben. Der deutsche Beamte übermittelt diese Entscheidung einem der letzten zehn überlebenden Opfer des Massakers korrekt, freundlich und unmissverständlich.

Enrico Pieri konnte als zehnjähriges Kind unter die Treppe kriechen, als Angehörige der Waffen-SS seine Familie, Verwandte und Nachbarn in die Küche trieben und diese dann mit Maschinengewehren durch die Fenster erschossen. Nur er und eine weiteres Kind überlebten in dem Haus. Insgesamt wurden am Morgen des 12. August 1944 560 Zivilisten, die meisten Frauen und Kinder – das jüngste gerademal 20 Tage alt – im toskanischen Bergdorf Sant’Anna di Stazzema ermordet. Am 1. Oktober 2012 gab die Staatsanwaltschaft Stuttgart bekannt das Ermittlungsverfahren gegen acht noch lebende Angehörige der Waffen-SS einzustellen. Neun der 17 Verdächtigen, die in Italien durch drei Instanzen des Mordes schuldig gesprochen wurden, sind während der über zehn Jahre dauernden Ermittlungsarbeit des Stuttgarter Oberstaatsanwaltes Bernhard Häußler in hohem Alter und unbehelligt gestorben.

Der Vorwurf, dass im Verfahren einzig auf Zeit gespielt wird ist nicht neu. Die von der Rechtsanwältin nun an die Generalstaatsanwaltschaft übergebene Beschwerde gegen die Stuttgarter Einstellungsverfügung wird weitere Monate der Prüfung bedürfen. Wird diese Beschwerde abgelehnt, bleibt nur ein Klageerzwingungsverfahren, so die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke. »Das kann wiederum Jahre dauern«, ergänzt sie. Sollte der Letzte noch lebende der einstmals vier Verdächtigen aus Baden-Württemberg in diesem Zeitraum sterben, wäre die Staatsanwaltschaft Stuttgart nicht mehr zuständig und das Verfahren ginge theoretisch in einem anderen Bundesland von vorn los, falls dann überhaupt noch einer der Verdächtigen leben sollte.

Die Wahrscheinlichkeit ist also hoch, dass eintreten wird was Michele Silicani, Bürgermeister der Gemeinde Stazzema in der Provinz Lucca, in einem Brief »an den Generalstaatsanwalt von Stuttgart« befürchtet: »Niemand verlange, dass die alten Männer ihre letzten Lebenstage im Gefängnis verbringen müssen, aber es sei auch nicht hinnehmbar, dass sie sich als unschuldig bezeichnen dürfen«. Der Bürgermeister führt zudem aus, dass sich hunderte seiner italienischen Amtskollegen nach der Stuttgarter Einstellungsverfügung sowie der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano und der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz in Schreiben mit den Opfern und seiner Gemeinde solidarisch gezeigt hätten. Der italienische Staatspräsident Napolitano, sonst eher als politisch zurückhaltend bekannt, sprach gar von »empörenden Begründungen« der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Politische Rückendeckung für die Ermittlungsergebnisse des Oberstaatsanwalts Bernhard Häußler gibt es lediglich von seinem baden-württembergischen Justizminister Rainer Stickelberger (SPD). Gabriele Heinecke bedauert, dass der Minister bei seiner Positionierung die Beschwerdeprüfung durch die Generalstaatsanwaltschaft nicht abgewartet hat.

Die mit dem Massaker befassten italienischen Juristinnen und Juristen sowie Historiker beider Länder teilen derweil fast ausnahmslos die Auffassung von Gabriele Heinecke, welche die Einstellungsbegründung von Oberstaatsanwalt Häußler als »absurd« bezeichnet. Im Kern behauptet er, die Angehörigen der Waffen-SS seien losgezogen um die männliche Bevölkerung zur Zwangsarbeit zu verschleppen und hätten keinen Befehl zur Tötung der Zivilbevölkerung erhalten. Erst als sie darüber frustriert gewesen seien, dass sie keiner arbeitsfähigen Männer habhaft werden konnten, hätten sie individuell ein Massaker verübt, was jedem einzelnen nachgewiesen werden müsste. Enrico Pieri, der von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft in der mehrjährigen Ermittlung nicht vernommen wurde, berichtet, dass sein Vater und Onkel jedoch nicht verschleppt, sondern gleichfalls in die Küche getrieben und erschossen wurden.

Gerade die Angehörigen der ausführenden Einheit hätten, so die Rechtsanwältin, »eine Blutspur durch ganz Europa gezogen«. Die Einheit sei dafür bekannt gewesen, die Zivilbevölkerung bei so genannten »Säuberungen« systematisch zu ermorden. Wären sie ins Bergdorf mit dem Wissen, ein Massaker zu verüben, vorgerückt, müssten zweifelsfrei alle des Mordes für schuldig gesprochen werden. So ist die Rechtsprechung in Italien und in Deutschland.