Wie erinnern?

geschrieben von Stefan Diehl

5. September 2013

Der Dokumentarfilm »Kein Friede den Frevlern« geht einen eigenen
Weg

Sept.-Okt. 2012

Der Film wird am 8. und 9. November 2012 im Filmforum Höchst, Emmerich-Josef-Straße 46 a, Frankfurt am Main, gezeigt. Der Regisseur steht für Vorstellungen und Diskussionen zur Verfügung: www.gegenfeuer-produktionen.de

Dieser Dokumentarfilm macht durch die Vereinigung eines anklagenden Berichtes und nüchterner Bilder geschichtliche Brüche und Kontinuitäten greifbar.

»Ich hatte mir vorgenommen, alles zu sehen, den Becher bis zur bitteren Neige zu trinken. (…) Denn irgendwo in mir war immer noch der unverwüstliche Glaube, dass bei der Abrechnung, wenn die Frevler zu Kreuze kriechen und um Gnade betteln würden, diese Beobachtungen mit in die Waagschale geworfen werden könnten«.

Dieses selbst auferlegte Gelübde erfüllte der 1941 über Shanghai in die USA emigrierte Leon Szalet in den Jahren 1942 bis 1944, indem er die Erlebnisse seiner 237 Tage KZ Haft im NS-«Musterlager« Sachsenhausen ausführlich in einem Bericht niederschrieb. Sein Text war als Anklage gedacht und in ihm scheint die Hoffnung mitzuschwingen, dass sein Zeugnis in einem späteren Prozess als Beweis genutzt werden würde. Dies ist leider nie geschehen. Der Originaltext wurde erst 2006 unter dem Titel »Baracke 38« durch den Berliner Metropol Verlag veröffentlicht.

In seinem essayistischen, 40-minütigem Dokumentarfilm »Kein Friede den Frevlern« nutzt der Berliner Filmemacher Mikko Linnemann diesen Bericht, um sich dem Thema »Wie erinnern?« zu nähern. Dieser Film stellt den ersten Teil einer mehrteiligen Reihe dar, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven dieser Fragestellung widmet. Er feierte seine Premiere im Rahmen des jüdischen Kulturfestes »Hip im Exil. Facetten des Judentums« im Juni 2012 in Mainz.

Linnemann versucht, eine andere Form des Films zu finden, als sie z. B. die im Fernsehen weitverbreiteten Dokumentationen des ZDF-Chefhistorikers Guido Knopp bieten. Im ganzen Film sind weder historische Aufnahmen noch Interview-Szenen zu sehen. Gedreht wurde an den Originalschauplätzen zur heutigen Zeit. Aus dem Off liest dazu der Schauspieler Michael Mendl mit eindrucksvoller Stimme Szalets Text.

Allein der Anfang des Films bricht schon mit den üblichen Konventionen. Der Film startet und wir sehen zunächst …. nichts. Eine schwarze Leinwand. Dann wird gesprochen, es setzt Musik ein und wir sehen einen kurzen Infotext zu Szalet und dessen Biografie. Im Folgenden werden der Ort Oranienburg und die KZ-Gedenkstätte gezeigt. Der lakonisch von Michael Mendl vorgetragene Text wird von den entsprechenden Bildern begleitet. Etwa wenn Szalet von der Spießigkeit des Ortes mit Blümchen im Vorgarten berichtet, sehen wir Oranienburg heute, Vorgärten mit Blümchen, so dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Ort im Text und dem Ort auf der Leinwand heute entsteht. Man sieht Ähnliches, aber auch Unterschiede, weiß aber zu jeder Zeit, dass dies der gleiche Ort wie damals ist. An einigen Stellen ist das geschulte antifaschistische Auge des Regisseurs zu erkennen, etwa wenn auf dem Dach eines leerstehenden Fabrikgebäudes der Schriftzug »Antifa« zu sehen ist, oder wenn der Aufkleber eines Neonazi-Grüppchens, der an einem Laternenmast klebt, gezeigt wird. Dies weist auf die heutigen Widersprüche und Kämpfe hin.

Innerhalb der KZ-Gedenkstätte sind u.a. die Baracken heute zu sehen. Hier zeigt der Film kein gerades Bild. Ständig steht die Kamera leicht schief, wie um die Unmöglichkeit, die Ungeheuerlichkeit des Ortes zu kommentieren. Während Szalet von den Misshandlungen in der für seinen Bericht titelgebenden Baracke 38 spricht, sehen wir diese mit verkanteter Kamera, wie sie heute aussieht. Aber nicht nur diese, auch Mauern, Wachtürme und Blumen werden im Text erwähnt und im heutigen Zustand gezeigt. Dabei bewegt sich die Kamera kaum. Jedes Bild gleicht beinahe einer Fotografie. Die einzelnen Abschnitte des Films sind jeweils durch einige Sekunden Schwarzbild voneinander getrennt. In der Mitte des Filmes ertönt für einige Minuten irritierende Musik. Der Film endet, wie er angefangen hat. Am Ende ist noch einmal die spießige Vorortsidylle zu sehen. Mit Figuren im Vorgarten des »Häuschens im Grünen«, des ganz normalen Bürgers.

Dieser Film ist ein Beispiel dafür, wie aus zwei unterschiedlichen erzählerischen Formen – geschriebener Text und dokumentarischer Film – etwas völlig neues entstehen kann. Ein Werk, das die Geschichte mit ihren Brüchen und Kontinuitäten in die heutige Zeit bringt und fasst zum Greifen nahe rückt.