Vom Holocaust keine Rede

geschrieben von Frank Brendle

23. Januar 2014

In Lettland werden Angehörige von SS-Divisionen als »Freiheitskämpfer« geehrt

 

Weit über 1000 Menschen beteiligen sich jedes Jahr an einem Gedenkmarsch für Angehörige der Waffen-SS in der lettischen Hauptstadt Riga. Aufrufer sind der Veteranenverband, ein nationalistischer Jugendverein und die rechtsextreme Partei »Alles für Lettland«, die Teil der Regierungskoalition ist. Die positive Erinnerung an die SS-Kämpfer ist in Lettland absolut salonfähig. Die wenigen Gegendemonstranten werden meist als »Provokateure« oder »Agenten Moskaus« abgetan.

Das lettische Außenministerium stellt auf seiner Homepage bizarr anmutende Versuche an, »Missverständnisse« bezüglich des SS-Marsches aufzuklären. Es gehe dort lediglich um eine private Gefallenen-Ehrung. Die rund 100.000 Mann (überwiegend Wehrpflichtige), die in der 16. und 19. Waffengrenadierdivision der SS gekämpft haben, seien eindeutig prowestlich orientiert gewesen und hätten mit den Nazis eigentlich nichts zu schaffen gehabt. Vor die Wahl zwischen Deutschland und »Russland« gestellt, hätten sich die Legionäre für Deutschland entschieden, »weil sie die Zusammenarbeit mit der westlichen Zivilisation suchten«, wird allen Ernstes ausgeführt. Verständnisheischend wird erklärt, viele hätten 1940/41 bei den sowjetischen Deportationen Familienangehörige verloren. Vom Holocaust und dessen Opfern ist in dem Text nicht die Rede, auch nicht von den Verbrechen der SS-Legion bei der sogenannten Partisanenbekämpfung. Staatspräsident Andris Berzins erklärte im Jahr 2012, man solle sich vor den Legionären »verbeugen«, die für »ihr Vaterland« gefallen seien. Wer in Riga demonstriert, begreift sich nicht als Nazi, sondern als Patriot.

Die Teilnehmer, darunter viele junge Menschen, bewegen sich schweigend, fast ohne Plakate und Transparente, zum Freiheitsdenkmal, das den Unabhängigkeitskämpfern des Jahres 1918/1919 gewidmet ist. Damit wird eine historische Kontinuität behauptet, die die SS-Kämpfer in den Kanon der Freiheitskämpfer einschließt. Auch die Wahl des Gedenktages ist hochpolitisch: Am 16. März 1944 hatte die Lettische Legion ihr erstes großes Gefecht mit der Roten Armee.

Dass der Kampf der Legion die Mordmaschinerie in Auschwitz verlängert hat, interessiert nicht. Diese Politik spiegelt sich auch im staatlichen »Okkupationsmuseum«, das den antisowjetischen Widerstand glorifiziert, aber die Rolle dieser »Widerstandskämpfer« in faschistischen Polizeiverbänden und die Kollaboration mit den Nazis generell kleinschreibt.

Die Gegendemonstranten sind überwiegend Angehörige der russischen Minderheit (was in den Augen von Letten wiederum das Vorurteil von den »Agenten Moskaus« bestätigt). Im vorigen Jahr beschallten sie den Platz am Freiheitsdenkmal mit sowjetischer Kampfmusik. Die Bewegung »Lettland ohne Nazismus« legt vor dem Eintreffen der Rechten einen Kranz zu Ehren der Nazi-Opfer ab – der wird im Anschluss vom Blumenmeer der SS-Verehrer überhäuft, ganz oben thronte im vorigen Jahr ein Foto eines dekorierten SS-Mannes, mit gut sichtbarem Hakenkreuz.

Mitten in Europa wird der SS gehuldigt, was allem, wofür die Anti-Hitler-Koalition gekämpft hat, unvereinbar gegenübersteht. Die Kräfte der lettischen Antifaschisten reichen nicht aus, um dieser Revision der Geschichte ein Ende zu machen. Sie setzen auf eine Internationalisierung des Themas, um einen Meinungswandel zu bewirken. In diesem Sinne ist eine sichtbare Präsenz ausländischer Unterstützer für die lettischen Antifaschisten zu wünschen. Einige Monate später findet im estnischen Sinimäe ein ganz ähnlicher SS-Aufmarsch statt, auch dorthin wird international zu Protesten mobilisiert.