Familienzusammenführung

geschrieben von Erika Wittlinger-Strutynski

5. September 2013

Wie der Widerstand das Leben dreier Generationen prägte

Jan.-Feb. 2012

Erich Hackl: Familie Salzmann. Erzählung aus unserer Mitte. Diogenes Verlag Zürich 2010, 192 Seiten, 19,90 Euro

In einem Interview im österreichischen »Kurier« vom 22.8.2010 sagte Erich Hackl: »Ich stelle mich hinter meine Protagonisten. Ich bin gut geschützt.« Sein Anspruch bestehe darin, »dass (er) für die Leute schreibe, über die (er) schreibe.« Und er äußert sogar die Hoffnung auf eine Familienzusammenführung.

Erich Hackl gibt seiner Erzählung »Familie Salzmann« den Untertitel »Eine Erzählung aus unserer Mitte«. Damit macht er bereits deutlich, dass es in seiner Familienchronik nicht zuletzt auch um die heutige Gesellschaft geht. Der Chronist Hackl erzählt uns die Geschichte der Familie Salzmann über drei Generationen. Ihren Ausgang nimmt die Erzählung jedoch in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der 24-jährige Hanno Salzmann erzählt an seinem Arbeitsplatz, dass seine Großmutter im KZ umgekommen sei, und wird daraufhin vom »Strudel der Ereignisse« erfasst. Bis zum Ende der Erzählung lässt der Autor den Leser im Unklaren darüber, worin der »Strudel« bestand.

Entsprechend seiner dokumentarischen Arbeitsweise greift Hackl auf die Arbeiten von Historikern über die Familie Salzmann, autobiographische Aufzeichnungen, Briefe oder auch Erzähltes zurück. Wo Quellen fehlen oder wo es ihm erforderlich scheint, ergänzt er, lässt die Figuren lebendig werden, den Erzähler kommentieren. Immer aber werden die Ergänzungen kenntlich gemacht.

Zunächst lernen wir die Großmutter Juliana, den Großvater Hugo Salzmann, den Sohn, der ebenfalls Hugo heißt, die Schwester bzw. Tante, später den Enkel kennen. Mittels der Familiengeschichte erfährt man viel über die sozialen und poltischen Verhältnisse der letzten 100 Jahre. Und es erscheint nicht zufällig, dass sich der Autor gleich im ersten Satz auf Hobsbawms Begriff vom » Zeitalter der Extreme« bezieht. Denn am Beispiel der Familie Salzmann wird deutlich, wie diese Extreme bis ins Private hineinwirken.

Das Leben der Großeltern ist von sozialer Härte, Pflichtgefühl, aber auch von Mitmenschlichkeit geprägt. Der Großvater, Hugo Salzmann, Gewerkschafter und kommunistischer Abgeordneter, kämpft von Beginn an gegen die Nazis. Es gelingt ihm, 1933 unterzutauchen und nach Paris zu fliehen, wohin ihm Frau und das einjährige Kind folgen. Der Leser erfährt nicht nur vom politischen Widerstand und den damit verbundenen Problemen, sondern gleichermaßen von der Härte des Alltags, die anfangs noch dadurch verstärkt wurde, dass die Flucht ohne Zustimmung der Partei stattfand. Anrührend, wie das Erzählte um die Perspektive des Sohnes, des kleinen Hugo, ergänzt wird. Es sind die Erfahrungen der Angst, die ihn in Panikanfällen weiter verfolgen, der Einsamkeit, aber auch der liebevollen Zuwendung, vor allem der Mutter. Er war es auch, der als Erwachsener Hackl die Geschichte erzählt hat. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Paris wird Hugo Salzmann verhaftet. Die Mutter versucht, den Sohn zu ihrer Schwester nach Österreich bringen zu lassen, was schließlich gelingt. Dann verliert sich ihre Spur. »Sie ist einfach gegangen und nicht wiedergekommen.« Tatsächlich wurde sie verhaftet.

Vom weiteren Schicksal der Eltern, den Stationen ihrer Inhaftierung, ihren seelischen Qualen gibt der Erzähler ein detailliertes Bild. Ähnlich einfühlsam werden die Situation des kleinen Hugo bei seiner Tante und deren alltäglichen Schwierigkeiten und Anfeindungen geschildert. Der Vater überlebt die Haft, Juliana, die Mutter, kommt ins Konzentrationslager Ravensbrück und stirbt. Immer wieder schaltet sich der Erzähler – und man darf hier wohl auch vom Autor Hackl reden – ein und bedauert vorwegnehmend, dass es Vater und Sohn nach dem Krieg nicht gelingen wird, miteinander über ihr seelisches Leiden zu sprechen.

Zwar kommt Hugo Salzmann 1948 zum Vater, kann jedoch bei ihm trotz gemeinsamer politischer Ansichten nicht die gewünschte persönliche Gemeinsamkeit finden. Als im Nachkriegsdeutschland neue Verfolgungen und Diskriminierungen von Kommunisten beginnen, ist es der Sohn, der in die DDR geht, aber nach zwölf Jahren mit seiner Familie nach Österreich zurückkommt.

Am Ende der Erzählung wird deren Beginn wieder aufgegriffen. Hanno Salzmann, der in Graz arbeitet, wird an seinem Arbeitsplatz gemobbt, als er erzählt, dass seine Großmutter im KZ umgekommen sei. Seine Kollegen vermuten, er sei Jude, und verfolgen ihn mit ihren antisemitischen Vorurteilen, grenzen ihn aus. Schließlich wird er entlassen. Aber auch an seinem neuen Arbeitsplatz wird er immer wieder angefeindet.

Hackl gelingt es mit dieser Erzählung, dem antifaschistischen Widerstand der kleinen Leute einen öffentlichen Raum zu geben, der weit über historische Darstellungen hinausreicht. Es sind die mutigen Taten der Widerstandskämpfer, von denen wir etwas erfahren, sowie von den Härten des Alltags. Er zeigt uns aber auch die seelischen Verwundungen, über die zu sprechen auch manchen Überlebenden unter den politisch Verfolgten nicht möglich war und die in den nächsten Generationen weiterwirken können, bei den Kindern und Enkeln des Widerstands.

Der Anspruch Hackels überträgt sich auch auf den Leser. Er fühlt sich mit den Figuren verbunden, bewundert sie, fühlt mit ihnen, leidet mit ihnen, lässt ihnen gewissermaßen die verweigerte Gerechtigkeit widerfahren, eines der Ziele, die Hackl für sich als Autor ebenfalls formuliert hat.