Lübecker Widerstand

geschrieben von Dr. Seltsam

5. September 2013

Gedanken zu einem Buch von Marianne und Günther Wilke

März-April 2007

Marianne und Günther Wilke:

Lübeck unterm Hakenkreuz. Wegweiser zu den Stätten des Widerstandes und der Verfolgung in Lübeck 1933-1945, Hrsg. VVN-BdA, 124 S.

Als Lübecker Jung erlebte ich meinen Konfirmandenunterricht in der, wie eine Naziburg gebauten, Lutherkirche, in deren Vorraum eine Gedenktafel an Pfarrer Stellbrink gemahnte, ein nicht sehr sympathisch wirkender, streng aussehender Geistlicher mit Hitlerbärtchen. Niemand sagte uns, dass er 1944 als Nazigegner hingerichtet wurde. Dass so viele bedeutende Antifaschisten aus Lübeck kamen, war den Lübeckern meiner Jugendjahre noch im Nachhinein peinlich: Die Manns, Willy Brandt, Julius Leber. Erich Mühsam wurde nicht mal erwähnt, bis sich endlich Ende der 80er-Jahre die rege Erich-Mühsam Gesellschaft bildete. Man kann also nicht gerade behaupten, dass die Stadt Lübeck sehr wohlwollend mit ihren Märtyrern umgegangen wäre, von den vier Pfarrern mal abgesehen.

Umso lobenswerter ist daher die Veröffentlichung »Lübeck unterm Hakenkreuz«, von Marianne und Günter Wilke, beide seit vielen Jahren aktiv in der VVN- BdA in Schleswig-Holstein. Aus ihrem Buch erfuhr ich nun, dass Pfarrer Stellbrink tatsächlich Mitglied der Nazipartei war und ihr zehn Jahre lang treu gedient hatte. Nichts wusste ich vorher aus meiner Jugendzeit von den tapferen Aktionen der Lübecker Hafenarbeiter, der illegalen KPD, die Emissäre der Komintern durch die anrüchigsten Hafenkneipen schmuggelten und über die Arbeiterfamilie Bringmann, die fast vollständig von der Gestapo ermordet wurde. Aber andere Dinge weiß ich, die ein sehr gespenstisches Licht auf die Lübecker werfen und die in dem Buch nicht vorkommen. Damit nun kein allzu guter Eindruck von den »anständigen« Lübeckern entsteht, hier einige der bösen Fakten zur Ergänzung.

Die größte Firma in Lübeck sind heute die Draeger-Werke. Heinrich Dreager war Wehrwirtschaftsführer und besaß ein eigenes KZ mit mehreren hundert russischen Zwangsarbeiterinnen. Gelegentlich wurden angeblich »faule« Arbeiterinnen an einem Galgen im Firmengelände aufgehängt und zur Warnung der Belegschaft hängengelassen. Ende 1944 erschoss die SS zwei Frauen »auf der Flucht«. Eine existierende Widerstandsgruppe im Lager wurde verraten, gefoltert und ausgelöscht, weder am Firmengelände noch sonst irgendwo erinnert man heute an die Opfer. Keiner kennt ihre Namen und es gibt keine ABM unter den vielen arbeitslosen Geisteswissenschaftlern der Hansestadt, um diese Vorkommnisse zu erforschen. Eine Draegertochter ging in meine Gymnasiumsklasse, natürlich wusste auch sie nichts davon.

Zu Beginn der Nachkriegszeit wollte die Fremdenverkehrswirtschaft gern wieder den Bäderbetrieb an der Ostseeküste aufnehmen, aber die infrage kommenden angloamerikanischen Kurgäste wurden noch jahrelang durch angeschwemmte Leichen der Cap Arcona/Thielbek-Katastrophe irritiert, deren Überlebende übrigens von eiligst zusammengestellten Jagdkommandos an den Stränden der Lübecker Bucht erschlagen wurden, wie der überlebende Kommunist und Schauspieler Erwin Geschonneck in einem verschwiegenen Dokumentarfilm von Hermann Leukert aus Lübeck berichtet.

1947 geriet Lübeck wieder negativ in die Schlagzeilen der Weltpresse, als die jüdischen Flüchtlinge der »Exodus« von der Reede vor Haifa hier in Pöppendorf interniert wurden, untere Anleitung der Engländer. Das war nun so geschäftsschädigend für das Renommee der Seebäder, dass der Lübecker Senat sich zu einem einzigartigen Schritt entschloss: Ein frühes Ehrenmal für die getöteten Juden, fünfzig Jahre vor dem sinnleeren Holocaust-Mahnmal in Berlin und genauso peinlich. Sie kamen nämlich auf die Idee, einen überdimensionalen Grabstein zu errichten, mit den Namen der letzten beiden Lübecker Juden, ein Ehepaar, das ausgerechnet von englischen Bomben getötet worden war. Sie meißelten auf den Stein: »Hier ruhen Hermann Israel Schild und Emma Sara Schild«. Und dann wunderten sie sich, dass sich weltweit ein Wutgeheul über diesen Schildbürgerstreich erhob.