Sein Gesicht war blutig

geschrieben von Aus: www.berlin-judentum.de/gemeinde/fontheim.htm

5. September 2013

Ernst Günter Fontheim erlebte den 9. November 1938 in Berlin

Nov.-Dez. 2009

Donnerstag, 10. November 1938: Der Tag begann wie jeder andere. Ich verließ unsere Wohnung am Kaiserdamm im Ortsteil Westend in Berlin um etwa 7.20 Uhr um zur nächsten S-Bahn-Station einige hundert Meter weiter zu gehen, an Wohnhäusern und Villen vorbei. Es gab keine Anzeichen von außergewöhnlichen Aktivitäten. Von dort nahm ich den Zug für eine etwa 15minütige Fahrt zur Haltestelle »Tiergarten« im Zentrum von Berlin. Dort war das Gymnasium der orthodoxen Gemeinde Adass Jisroel, wo ich einige Minuten vor Unterrichtsbeginn um 8.00 Uhr ankam. Als ich das Klassenzimmer betrat, erzählten einige Klassenkameraden schreckliche Geschichten von dem, was sie auf ihrem Schulweg gesehen hatten: Eingeworfene Scheiben jüdischer Geschäfte, plündernden Mob und sogar noch brennende Synagogen. Einige Schüler waren nicht zum Unterricht gekommen. …

Als unser Lehrer Dr. Wollheim das Klassenzimmer betrat und die Tür hinter sich schloss, hörten alle Gespräche sofort auf. Mit angespannter Stimme kündigte er an, dass die Schule uns heute nach Hause schicken würde, weil man nicht für unsere Sicherheit garantieren könne. Dann folgten eine Reihe von Instruktionen, wobei er uns drängte, diese ins kleinste Detail zu befolgen. Erstens sollten wir direkt nach Hause gehen und das so schnell wie möglich ohne irgendwo unterwegs herumzulungern oder Freunde zu besuchen, so dass unsere Eltern wissen würden, dass wir in Sicherheit seien.

Zweitens sollten wir nicht in großen Gruppen gehen, denn das würde Aufmerksamkeit auf uns ziehen und möglicherweise Gewalt durch feindliche Menschenmengen nach sich ziehen. Er schloss seine Ausführungen damit, dass er mitteilte, in absehbarer Zeit würde kein Unterricht stattfinden und wir würden benachrichtigt, wenn die Schule wieder beginnen würde.

Schnell ging ich zurück zur S-Bahn-Station Tiergarten und beschloss, aus dem Fenster zu sehen, wenn der auf einer erhöhten Trasse fahrende Zug an der Synagoge Fasanenstraße vorbeikommen würde, wo ich Bar Mizwa geworden war. Es war ein wunderschönes in maurischem Stil mit drei großen Kuppeln erbautes Gebäude. Ich fühlte buchstäblich wie mein Herz in meinen Magen fiel als ich eine dicke Wolkensäule aus der mittleren Kuppel steigen sah. Es war windstill an diesem Tag und die Rauchsäule schien bewegungslos bis in den Himmel zu reichen. In diesem Moment verließ mich mein rationales Denken. Ich stürzte aus dem Zug an der nächsten Haltestelle und raste einige Häuserblocks zurück als würde ich von einer unwiderstehlichen Kraft gezogen. Ich dachte nicht mehr an Dr. Wollheims Anweisungen und auch nicht an irgendeine mögliche Gefahr für mich. Polizeibarrikaden hielten die Gaffer auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Aus Löschzügen mit Wasserschläuchen wurden die angrenzenden Gebäude bespritzt. Die Luft war erfüllt von dem beißenden Gestank von Rauch. Ich wurde in eine feindliche Menschenmenge hineingedrückt, die in einer furchtbaren Stimmung war und antisemitische Parolen schrie. Ich war vollständig hypnotisiert von der brennenden Synagoge und ließ jede mögliche Gefährdung außer acht. Ich dachte an die vielen Male, an denen ich hier Gottesdienste besucht hatte und Predigten gehört hatte, die alle meine Seele gestärkt hatten während diesen schwierigen Jahren der Verfolgung. Nicht einmal die schon fast sechs Jahre dauernde Herrschaft der Nazis hatte mich auf eine solche Erfahrung vorbereitet.

Plötzlich schrie jemand, dass eine jüdische Familie im Erdgeschoß des Wohnhauses gegenüber von der Synagoge wohnen würde. Mit dem Blick auf die brennende Synagoge wurden die Menschen an die Wand hinter sich gedrückt. Irgendjemand anderer schrie: »Na, dann lasst uns da hingehen«. Jedermann drehte sich um. Diejenigen, die am nächsten standen, drängelten sich durch den Eingang des Gebäudes. Ich konnte harte Schläge gegen die Wohnungstür hören. In meiner Phantasie stellte ich mir eine vor Angst zitternde Familie vor, die sich in einem Raum versteckt, der so weit wie möglich von der Eingangstür entfernt war und hoffte und betete, dass die Türe standhalten würde. Und ich betete mit ihnen. Wie heute erinnere ich mich an den gewaltig krachenden Lärm der splitternden Tür, der eine Totenstille folgte. Dann plötzlich ertönten wilde Triumphschreie. Ein älterer kahlköpfiger Mann wurde brutal durch die Menge gestoßen während Fäuste auf ihn einprügelten. Dies wurde begleitet von antisemitischen Ausfällen. Sein Gesicht war blutig. Ein einziger Mann in dieser Menge rief: »Wie feige! So viele gegen einen!«

Sofort wurde er von anderen angegriffen. Nachdem der ältere Jude an den Bordstein getrieben worden war, erschien geheimnisvollerweise ein Polizeiwagen. Er wurde hineingestoßen und weggebracht. Ich verließ dieses Horrorszenario und war völlig erschöpft, fassungslos und ging wie in Trance nach Hause.