Briten unterm Hakenkreuz

geschrieben von Thomas Willms

11. September 2013

Andere Erinnerungen auf den Kanal-Inseln

Der heutige deutsche Besucher der britischen Kanal-Inseln kann viele merkwürdige Beobachtungen machen. Die materiellen Reste der deutschen Besatzung von 1940 bis 1945 – Bunker, Geschützstellungen, Betonwege, Kanonen und Tunnelanlagen – sind aufdringlich genug. Stärker noch beeindrucken die offensichtlichen Deutungsprobleme der Inselgesellschaften bezüglich der »Occupation«. Sie sind so stark, dass sie nicht nur die zahlreichen Besatzungsmuseen, sondern jede Heimatstube und jedes Gespräch insbesondere mit älteren Einwohnern durchziehen.

Der quälende Widerspruch besteht darin, dass die Erfahrungen der Insulaner nicht denen der kämpfenden Siegernation Großbritannien entsprechen, sondern jenen der unterworfenen Festlandseuropäer ähneln. Gegenüber dem Mutterland besteht ein unterschwelliger Vorwurf: Guernsey, Jersey und die kleineren Inseln wurden im Juni 1940 weder verteidigt noch 1944 befreit. Beides war aus rein militärischer Sicht zwar verständlich, aber gefühlsmäßig schwer zu verdauen.

Die spezifischen, teils peinlichen, Erfahrungen der Insulaner spielten in der Nachkriegs-Nationalerzählung zum Krieg keine Rolle und wurden lange Zeit verdrängt. Vielleicht eher unfreiwillig macht das zentrale Befreiungsdenkmal auf Guernsey das Problem deutlich: Eine Säule mit Jahresringen zeigt die besagten fünf Jahre als Leerstelle, als hätte es sie nicht gegeben.

Schwieriger Teil der »falschen« Erinnerung der Insulaner ist die ungewöhnlich positive Einschätzung der Wehrmachtssoldaten. Man erlebte sie als »normale« Besatzer, oft auch als »arme Schweine«, nicht als alles niederbrennende Mörder. Dass die relative Milde der Besatzungsbedingungen Ausdruck von Hitlers Kalkül gegenüber Großbritannien war, konnte man nicht wissen und wird selbst heute kaum thematisiert. Auch hielt man die Bewohner Jerseys und Guernseys vom Ort des Terrors, der evakuierten Insel Alderney fern. Dort fielen hunderte Zwangsarbeiter den Deutschen zum Opfer.

Charakteristisch für die Besatzungsmuseen der Inseln ist der geradezu liebevolle Umgang mit den militärischen Überbleibseln. Dass man aus den Betonburgen der Wehrmacht heute touristisch Geld schlägt ist verständlich, aber erklärt doch nicht völlig, warum so viel Energie aufgewendet wird, Teile der »Festung Guernsey« nicht nur zu bewahren, sondern sogar zu rekonstruieren. Bei diesen Bemühungen spielt das private »Occupation Museum« Guernseys eine wichtige Rolle. In dessen Tea-Room sitzt man zwischen lebensgroßen Wehrmachts-Arrangements, die man in Europa wohl nirgendwo sonst zu sehen bekommt.

Die Darstellung in Form von Puppenstuben ist von den Heimat-Museen der Inseln übernommen (oder ist es andersherum?) und wird von den neueren Kriegsmuseen weiter entwickelt. Im Eingang der neu zugänglich gemachten Jersey War Tunnels – einer großen unterirdischen Bunkeranlage – wird der Besucher von einem Panzer-Diorama empfangen und dröhnend mit dem Horst Wessel Lied eingestimmt. Natürlich gab es das während der Besatzungszeit nicht. Überhaupt ging die ganze Anlage zur Besatzungszeit nie in Betrieb. Der oberflächliche Besucher wird verleitet, die beeindruckend arrangierten Szenen unterschiedslos für wahr zu halten, ob sie es nun waren oder nicht. Dass soviel Wert auf den optischen Eindruck gelegt wird, ist nicht mehr überraschend, wenn man erfährt, dass die War Tunnels von einer »Ltd.«, also einer Firma, betrieben werden.

In den War Tunnels beschäftigt man sich auch mit der Auslotung von »Zusammenarbeit« und »Kollaboration« der Inselbehörden und einzelner Persönlichkeiten mit den Deutschen und trifft Urteile, die in ihrer Eindeutigkeit zu einfach sind. In irgendeiner Art und Weise mit den Deutschen zu tun zu haben, war in der langen Zeit der isolierten Besatzung nahezu unausweichlich. Die hohen deutschen Löhne veranlassten manchen Arbeitslosen dazu, an den Bunkeranlagen mitzubauen, die die eigene Befreiung verhindern sollten. Zigtausend gelangweilte junge deutsche Männer mit Wurstdosen und Zigaretten trafen auf einen kriegsbedingt hohen Frauenüberschuss. Das entstehende Beziehungsspektrum reichte von wahrer Liebe bis zur Not-Prostitution und führte zu vielen Babys. Es ist bezeichnend, dass es nach Kriegsende nicht zu den aus anderen Ländern bekannten öffentlichen Demütigungen der »Deutschen-Liebchen« kam.

Die Inselregierungen und die Inselgesellschaften haben bis heute keinen Weg gefunden, die »geschwärzten« Erfahrungen und Gefühle zu thematisieren und angemessen zum Ausdruck zu bringen. »Ihr habt uns im Stich gelassen!« – diesen Satz darf es bis heute öffentlich nicht geben.