»Bewältigtes« neu benennen

geschrieben von Heinrich Fink

22. Juli 2017

Der Schriftsteller Johannes Bobrowski war Christ, Humanist und Antifaschist

Vor 100 Jahren, am 9. April 1917 wurde Johannes Bobrowski in Tilsit, nahe der litauischen Grenze, geboren. Die Eltern des Vaters waren Bauern, eingewanderte Hugenotten, die die christliche Tradition der Familie begründeten. Wichtig für Bobrowski waren die verschiedenen Nationalitäten, die in diesem Grenzgebiet zusammenlebten – Polen, Litauer, Russen und Deutsche, unter ihnen allen viele Juden. Das Aufwachsen als Deutscher unter diesen Völkern wurde zum Thema seines Lebens und Schreibens.

1928 zog die Familie nach Königsberg, dem Sammelpunkt bürgerlichen Geisteslebens oder, wie Bobrowski oft sagte, dem Gipfel der Aufklärung. Er besuchte das Gymnasium, vor dem ein Denkmal von Immanuel Kant stand. Bobrowski berichtet: »In diesem humanistischen Gymnasium war die latinisierte Eleganz des 17. und 18. Jahrhunderts genauso zu Hause wie der humorvolle derbe Dialekt ostpreußischer Bauern.«

Johannes Bobrowski  Foto: Roger Melis

Johannes Bobrowski
Foto: Roger Melis

Zur Selbstverständlichkeit seiner Eltern gehörte der sonntägliche Kirchgang. Dem nazikritischen Dompfarrer verdankt er seine frühe Aufklärung über den Streit in der Kirche. Er bekam lebendig mit, wie die »Deutschen Christen« in ihrer Sympathie für die Nazis und die Gruppe der »Bekennenden Kirche«, einer kritischen Bewegung in Opposition zur faschistischen Gleichstellungspolitik, zur herrschenden Auffassung, ihre gegensätzlichen Standpunkt ausfochten.

In seiner Erzählung »Der Mahner« bringt er die Haltung der Bekennenden Kirche zum Ausdruck. Immer wieder wird über den Umgang der Gemeindemitglieder mit den Juden diskutiert. Zum großen Entsetzen seiner Familie erkannten sie plötzlich, dass der Pfarrer der Deutschen Christen unter seinem Talar eine SA-Uniform trug. Dies macht die Gruppe der Bekennenden Kirche wütend. Wie seine Mitschüler, so diskutierte auch Johannes Bobrowski mit seinem Lateinlehrer. Es war der Schriftsteller Ernst Wiechert, der 1935 eine berühmte Rede an der Münchner Universität hielt und später, nach dem Protest gegen die Verhaftung von Pastor Niemöller, im Konzentrationslager Buchenwald eingesperrt war. Dessen Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche prägte Bobrowskis weitere Entwicklung in seinem antifaschistischen Denken und im dann folgenden Widerstand gemeinsam von Klassenkameraden und Lehrern.

1938 siedelte Familie Bobrowski nach Berlin-Friedrichshagen um. Im selben Jahr wurde er zum Arbeitsdienst eingezogen und dann zur Hitler-Wehrmacht. Der Krieg führte ihn wieder nach Ostpreußen, in eine Landschaft, die seinem Geburtsland ähnelte. Bobrowski sagte später, dass die von ihm später verfasste Literatur »so etwas wie eine Kriegsverletzung war«. »Ich bin als Soldat in die Sowjetunion gewesen, ich habe dort das noch vor Augen geführt bekommen, was ich historisch von der Auseinandersetzung des Deutschen Ritterordens mit den Völkern im Osten von der preußischen Ostpolitik, aus der Geschichte wußte.« An anderer Stelle heißt es: »Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher.«

Krieg und Gefangenschaft zwingen ihn, politisch-historische Zusammenhänge zu sehen, und er beginnt, neu darüber nachzudenken. Er stand als Mitglied der Bekennenden Kirche auf der Seite des christlichen Widerstands gegen den Hitlerfaschismus und hatte engen Kontakt mit dem Theologieprofessor Hans Iwand, der die Gemeinde über das Denken von Dietrich Bonhoeffer aufklärte.

1949 kam Bobrowski wieder nach Berlin-Friedrichshagen zurück. Er fand hier in seiner Familie den Ort, von dem aus er wirken konnte. Die Umsetzung der Erfahrungen aus den Kriegerlebnissen schlug sich in seinem Schreiben nieder. Seine Bekanntschaft mit Peter Huchel gab ihm die Möglichkeit, seine ersten Gedichte in der Zeitschrift »Sinn und Form« zu veröffentlichen.

1950 begann er als Lektor im Altberliner Verlag Lucie Groszer. Dort hatte er die Möglichkeit, Bücher zu lektorieren, die in sein Denken passten, z.B. den »Märkischen Eulenspiegel aus dem Jahr 1587«. Später wechselte er ins Lektorat des Union-Verlages. Dort wurde er in Literaturkreisen bekannt und zu Lesungen eingeladen. Als Dichter wurde er von der »Gruppe 47« entdeckt und konnte seine Gedichte auf deren 22. Tagung vortragen. Ehrungen blieben nicht aus. Er bekam z.B. 1962 in Wien den Alma-Johanna-König-Preis, benannt nach der jüdischen Dichterin, die von den Faschisten verschleppt und ermordet worden war. Im gleichen Jahr folgte der Preise der Gruppe 47 und der Heinrich-Mann-Preis. Bobrowski wird über die Grenzen hinaus bekannt, besonders mit seinem Meisterwerk »Levins Mühle«.

Bobrowski schrieb: »Ich bin dafür, dass alles neu benannt wird, was als ›bewältigt‹ bezeichnet wird. Es muß in seiner Wirkung der jungen Generation bewußt gemacht werden und deren Folgen in der Geschichte.« Er beschreibt das auch in einem Gedicht – »Holunderblüte«, für mich eines seiner eindrücklichsten.

Johannes Bobrowski starb am 2. September 1965. Er hinterließ mit seinem Werk einen großen, nicht vollendeten Entwurf zeitgeschichtlicher und lyrischer Arbeiten.

Holunderblüte

Es kommt
Babel, Isaak.
Er sagt: Bei dem Pogrom,
als ich Kind war,
meiner Taube
riß man den Kopf ab.

Häuser in hölzerner Straße,
mit Zäunen, darüber Holunder.
Weiß gescheuert die Schwelle,
die kleine Treppe hinab –
Damals, weißt du,
die Blutspur.

Leute, ihr redet: Vergessen –
Es kommen die jungen Menschen,
ihr Lachen wie Büsche Holunders.
Leute, es möcht der Holunder
sterben
an eurer Vergeßlichkeit.