Die Gingolds

geschrieben von Ulrich Schneider

19. November 2017

Eine Familienbiographie als Spiegelbild deutscher Gesellschaft

Es gibt nur wenige Familienbiographien, in denen sich wie durch ein Brennglas betrachtet, die deutsche Geschichte und der Umgang mit dem Antifaschismus darbieten, wie die Geschichte der Gingolds.

Silvia Gingold 1975

Silvia Gingold 1975

Es beginnt bei dem Schicksal der Großelterngeneration. Silvias Großeltern waren polnisch stämmige Juden, die sich, dem zunehmenden Antisemitismus im ländlichen Raum entfliehend, in Aschaffenburg ansiedelten und sich dort ihren Lebensmittelpunkt schufen. Zwar gab es zu dem Zeitpunkt keinen polnischen Staat, aber »Deutsche« wurden sie dennoch nicht, auch als die Familie aus familiären und beruflichen Gründen nach dem ersten Weltkrieg nach Frankfurt/Main zog. Sie besaßen zwar ein Aufenthaltsrecht, aber keine deutschen Papiere. Mit dem nun wiederentstandenen polnischen Staat verband die Gingolds nicht mehr als der Name ihres Geburtsortes.

Silvias Vater Peter kämpfte schon als Jugendlicher in der Gewerkschaft und dem KJVD gegen den Vormarsch der NSDAP, musste jedoch erleben, dass die gespaltene Arbeiterbewegung nicht in der Lage war, den 30. Januar 1933, die Machtübertragung, zu verhindern.

Die Familie entschied sich daher bereits im Frühjahr 1933 für die Emigration nach Frankreich, auch Peter gelang rechtzeitig die Flucht ins Exil, wo er mit seinen Geschwistern und anderen deutschen Nazigegnern antifaschistisch tätig wurde. Trotz kurzzeitiger Internierung als »feindlicher Ausländer« schloss er sich nach der faschistischen Besetzung des Landes der französischen Widerstandsbewegung an und riskierte sein Leben nicht nur für die Freiheit Frankreichs, sondern damit auch für die Befreiung Deutschlands von der faschistischen Herrschaft. Seine aktive Rolle im antifaschistischen Kampf wurde nach 1945 zwar in Frankreich gewürdigt – auch mit hohen staatlichen Auszeichnungen – nicht aber in Deutschland.

In seinen Erinnerungen beschreibt Peter, wie sich seine deutschen Nachbarn ablehnend gegenüber den »Heimkehrern« verhalten haben und keinerlei Empathie für die ehemals NS-Verfolgten hegten. Vielmehr wurden die Gingolds staatlicherseits erneut verfolgt, als mit dem KPD-Verbot die Familie ins Visier der politischen Polizei und des »Verfassungsschutzes« geriet. Haussuchungen und andere Überwachungsmaßnahmen waren an der Tagesordnung. Selbst Nachbarn wurden zu Spitzeltätigkeiten angehalten.

Den Gipfel lieferte jedoch die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft im Herbst 1956. Offenbar hatte ein Mitarbeiter beim Einwohnermeldeamt das Fehlen der Einbürgerung festgestellt. Peter war somit nominell noch »polnischer Herkunft«. Nicht seine Haltung im antifaschistischen Widerstand, sondern das rassistische »Blutsgesetz« definierte in der BRD die Zugehörigkeit zum »deutschen Volk«. Die Familie bekam damit nur einen »Fremdenpass«, mit dem eine Reise zur Verwandtschaft in Paris nicht ohne weiteres möglich war. Es bedurfte langjähriger politischer Auseinandersetzungen, bis eine Einbürgerung erreicht werden konnte.

Die Bespitzelung umfasste alle Mitglieder der Familie Gingold – auch Tochter Silvia, die für ein Lehramt studierte. Als sie 1974 mit dem 2.Staatsexamen die Lehrerausbildung erfolgreich abschloss, präsentierte man ihr »Erkenntnisse« des Verfassungsschutzes, die eine langjährige, umfassende Überwachung belegten. Aufgelistet wurden die Teilnahme am Ostermarsch, Proteste gegen den Vietnamkrieg, Teilnahme an den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Sofia, Reisen in die DDR und die Mitgliedschaft in der DKP. 1975 wurde sie aus dem hessischen Schuldienst entlassen.

Der Kampf gegen dieses Berufsverbot wurde viele Jahre auf politischer und juristischer Ebene geführt, selbst angesehene Juristen und Politiker aus Frankreich setzten sich für Silvia Gingold ein – dennoch verweigerte der bundesdeutsche Staat der Tochter eines jüdischen Widerstandskämpfers das Recht, als Beamtin in den hessischen Staatsdienst übernommen zu werden. Als »Kompromiss« wurde ihr 1976 angeboten, weiterhin als angestellte Lehrerin in Hessen tätig sein zu können.

Wer erwartet hätte, dass damit die Stigmatisierung und staatliche Überwachung endlich beendet werden würde, irrte. Erst durch ein Verfahren, das Silvia Gingold nach ihrem Renteneintritt gegen das Land Hessen auf Einsicht in ihre VS-Akte angestrengt hat, wurde bekannt, dass der VS nun mit dem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst seine Sammeltätigkeit fortsetzte. Und die Liste der »Erkenntnisse« ist »erschreckend«:

Aktivitäten gegen die Berufsverbote-Politik vor 40 Jahren und heute, öffentliche Lesungen aus den Erinnerungen von Peter Gingold, Mitarbeit in der VVN BdA – in der Tradition ihrer Eltern und Aktivitäten im Rahmen des Kasseler Friedensforums.

Die Geschichte der Familie Gingold ist ein Beleg dafür, wie das Eintreten für Antifaschismus, Frieden und demokratische Freiheiten fast ein Jahrhundert in Deutschland verfolgt wurde – und immer noch wird.