Nazigang in der Krise

geschrieben von Andreas Siegmund-Schultze

4. September 2022

Die »Turonen« bekamen in Thüringen wenig Probleme mit dem Staat aufgrund ihres rechten Terrors. Ihre tiefe Verwurzelung in der organisierten Kriminalität wird ihnen nun aber zum Verhängnis

Die insbesondere in Thüringen aktive und mutmaßlich im Jahr 2015 gegründete extrem rechte Rockergruppe »Turonen« befindet sich derzeit in einer existenziellen Krise. Zahlreiche Führungsleute der gelegentlich »Nazimafia« genannten Organisa-tion, darunter das Oberhaupt Thomas Wagner, sitzen nach zwei Wellen von Razzien durch hunderte Beamt:innen im Februar 2021 und Juni 2022 weiter im Knast (siehe Marginalie Seite 18). Die »Turonen«, die als Logo das Pfeilkreuz der ungarischen Faschisten nutzen, gelten als Elite der »Bruderschaft Thüringen«. Unter deren Dach befindet sich mit der »Garde 20« ein Rekrutierungszirkel – -rockertypisch »Supporter« genannt. Zur Kleidung gehören die bei Rockern üblichen Lederkutten. Umfangreiche Kontakte sollen die »Turonen« zu Gruppen in der Schweiz und Österreich sowie anderen Ländern Europas unterhalten, aber auch bundesweit sind die Thüringer gut vernetzt. Als Vorbild dient offenbar die oberösterreichische Nazitruppe »Objekt 21«, zu der personelle Überschneidungen existieren. Zudem deutet einiges darauf hin, dass Waffen und Drogen von »Objekt 21« zu den »Turonen« gelangt sind.

Thüringens »gefährlichste Neonaziorganisation«

Katharina König-Preuß (Fraktion Die Linke im Thüringer Landtag) bezeichnete die Gruppe gegenüber dem MDR jüngst als »gefährlichste Neonaziorganisation«, die das für seine NSU-Verwurzelung ohnehin bekannte Bundesland in den letzten Jahren hatte. »Mit Auswirkungen über Thüringen hinaus, mit Strukturen, in denen definitiv auch Gewalt eingesetzt wurde, um die eigenen Ziele – seien sie -ideologisch oder kriminell motiviert – umzusetzen«, so König-Preuß weiter. Dafür spricht, dass allein zwischen 2019 und Anfang 2021 in Thüringen 32 Ermittlungsverfahren gegen die rechten Rocker eingeleitet wurden – unter anderem wegen Körperverletzung, Urkundenfälschung, Hehlerei, Betrug, Hausfriedensbruch und Volksverhetzung.

Der Neonazi und derzeit in Haft sitzende »Turonen«-Chef Thomas Wagner (r.) im Jahr 2018 im thüringischen Kirchheim. Foto: Recherche Nord

Der Neonazi und derzeit in Haft sitzende »Turonen«-Chef Thomas Wagner (r.) im Jahr 2018 im thüringischen Kirchheim. Foto: Recherche Nord

»Turonen«-Chef Wagner und viele seiner Kameraden sind seit Jahrzehnten in der Neonaziszene Thüringens aktiv. Sie verübten brutale Überfälle, beispielsweise im Februar 2014 auf die Feier einer Kirmesgesellschaft in einem Kulturzentrum in Ballstädt bei Gotha. Hierbei wurden zehn Menschen zum Teil schwer verletzt. Das Landgericht Erfurt verhängte 2021, sieben Jahre nach dem Angriff, Bewährungsstrafen gegen die Beschuldigten, nachdem die Urteile eines ersten Prozesses 2017 durch den Bundesgerichtshof im Jahr 2020 wegen Verfahrensfehlern aufgehoben worden waren. 2017 hatte das Gericht gegen einige Täter noch Haftstrafen verhängt. 2021 ließen sich die Neonazis auf einen Deal ein, indem sie einräumten, was ohnehin nicht mehr zu bestreiten war.

Zum Verhängnis wurden den »Turonen«, deren innerster Kern aus etwa einem Dutzend Personen bestehen soll, also weniger ihre brutalen Überfälle aus neonazistischen Motiven. Auch Verfahren wegen Volksverhetzung, beispielsweise in Verbindung mit den von ihnen organisierten Rechtsrockkonzerten, brachten eher wenig Probleme. Gleiches galt für die Produktion und Verbreitung von Nazimusik oder die finanzielle Unterstützung des NSU-Umfeldes. Die staatlichen Stellen traten erst dann geballt in Aktion, als es um den Handel mit Drogen und Waffen sowie Geldwäsche oder Zwangsprostitution ging. All diese Aktivitäten und die Millionen-umsätze, die damit verbunden waren, trugen nicht nur zu erheblicher persönlicher Bereicherung mehrerer Involvierter bei, sondern sorgten auch für einen erheblichen Geldstrom in Nazistrukturen. Staatliche Stellen gehen insgesamt von mindestens 60 unmittelbar beteiligten Personen in diesem Netzwerk aus.

Eine wichtige Person im Dunstkreis der »Bruderschaft Thüringen« bzw. der »Turonen« ist der rechte Szeneanwalt Dirk Waldschmidt. Er »erarbeitete« sich intern sogar die Bezeichnung »Ehrenturone«. Parteipolitisch trat er zuletzt auf Veranstaltungen von »Der III. Weg« auf, aber schon 2006 wurde der heute 57-Jährige zum Vizechef der hessischen NPD gewählt. Für das »Clubhaus« der »Turonen« in Gotha soll Waldschmidt Sportgeräte zur Verfügung gestellt und dort auch eine Kanzleizweigstellle geplant haben – nicht zuletzt, um Razzien zu erschweren. Wald-schmidt trat als Verteidiger zahlreicher Neonazis aus dem Umfeld der »Turonen« und auch als Rechtsbeistand von Stephan Ernst in Erscheinung, der 2021 wegen des Mordes am CDU-Politiker Walter Lübcke zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Aktuell sitzt Waldschmidt, wie viele seiner Thüringer Kameraden, allerdings selbst in Haft – wegen des Vorwurfs, am bandenmäßigen Handel mit Drogen und somit an einer kriminellen Vereinigung beteiligt gewesen zu sein. Als Anwalt soll er zudem Parteienverrat in Tateinheit mit gemeinschaftlicher Erpressung begangen haben. Waldschmidt hat laut taz auf Festgenommene erheblichen Druck ausgeübt, damit diese bei der Polizei seine »Turonen«-Mandanten nicht belasten. Darüber hinaus habe er mindestens einem aussagewilligen Verdächtigen Schweigegeld angeboten. Weiterhin steht gegen den rechten Anwalt der Vorwurf der gewerbsmäßigen Geldwäsche in 60 Fällen im Raum. So soll Ralf Wohlleben, als NSU-Unterstützer 2018 in München zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, bei Waldschmidt ab Mai 2020 als »Büromitarbeiter IT-Bereich« einen Job mit 450 Euro Monatslohn erhalten haben. Die Staatsanwaltschaft Gera glaubt: Dies geschah nur zum Schein.

Geschäftliche Umorientierung zur Nazimafia

Die »Turonen« samt Umfeld galten auch als besonders aktiv bei der Organisierung und »Absicherung« von extrem rechten Konzerten und Festivals, bevor die behördlichen Maßnahmen aufgrund der Corona-Pandemie für eine geschäftliche Um-orientierung sorgten. So waren die »Turonen« maßgeblich an der Vorbereitung und Durchführung des von rund 6.000 Neonazis besuchten »Rock gegen Überfremdung II« am 15. Juli 2017 im südthüringischen Themar beteiligt. Hierzu war bundes- und europaweit mobilisiert worden, Szenekenner gehen von einem Gewinn von bis zu 200.000 Euro für die Veranstalter dieses Events aus. Weiterhin machte die Nazigang durch Unterstützungskonzerte für den verurteilten NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben von sich reden.

Die Schwerpunktverschiebung auf das, was gemeinhin organisierte Kriminalität genannt wird, war bei den »Turonen« ab 2020 zu beobachten. Extrem rechte Rocker oder Nazis, die kriminelle Geschäfte für sich entdeckt haben, sind insgesamt kein neues Phänomen. Das im Fall der »Turonen« nun mehr und mehr sichtbare Ausmaß ermöglicht jedoch eine tiefere Analyse. Bedeutend wurden die »Turonen« samt Umfeld durch die Anhäufung von Immobilien, in denen das Milieu im Verborgenen wirken konnte. Zudem boten die Rückzugsorte Raum für Kampfsport und Konzerte, die Lagerung beispielsweise von Rechtsrock-Tonträgern, aber auch von Waffen und Munition. Mehrfach wurden die Räume als Bordelle genutzt.

In den letzten Jahren sind so immer wieder Anwesen von »Turonen« bzw. ihrem Umfeld in Gotha, dem nahe gelegenen Ballstädt, in der Nähe von -Crawinkel, in Henningsleben bei Bad Langensalza oder Kirchheim aufgefallen, wie das Antifaschistische Infoblatt (AIB) Anfang dieses Jahres in seinem Heftschwerpunkt »Rechte Siedlungsträume« berichtete. Laut AIB konzentrierten sich die »Turonen« beim Häuserkauf auf kleinere Dörfer, weil dort »neben gemeinschaftlich genutztem Wohnraum« und »abseits urbaner Großstädte der Traum einer intakten Volksgemeinschaft gelebt werden« könne und die Kaufpreise niedrig seien. Und weiter: »Dem Wegzug meist junger Menschen in die Städte folgt weiterhin die Verödung der Dörfer, woraufhin es Neo-nazis leichter haben, Fuß zu fassen und ein Klima der Angst zu schaffen, weil niemand mehr da ist, um sich gegen sie zu stellen«. Wie eine Antwort des Landesinnenministeriums auf eine Anfrage von Katharina König-Preuß kurz vor Druckschluss dieser Ausgabe offenbarte, sind in Thüringen aktuell »mindestens 19 Immobilien in den Händen« von Neonazis. Sie »dienen als Fundament, um rassistische, antisemitische und nationalistische Ideologien weiter zu transportieren und zu verbreiten, stellen Treff- und Veranstaltungsorte gleichermaßen wie Umschlags- und Vertriebsstätten, aber auch Rückzugsorte dar«, so König-Preuß.1

Dass florierende extrem rechte Geschäfte im Musik-, Drogen- oder Immobiliensektor zum Ausbau der Infrastruktur von Neonazis führen, ist ziemlich offensichtlich und häufig auch Gegenstand von Medienberichterstattung. Weniger im Fokus steht, welche verheerenden Folgen das im lokalen Rahmen haben kann. So berichtet das AIB, dass bei »Turonen«-Drogengeschäften auch »Minderjährige als ›Läufer‹, die die Drogen auf der Straße verkaufen, eingesetzt« wurden. Auch STRG F – ein Videoformat, das der Norddeutsche Rundfunk produziert – beleuchtet den Sachverhalt in einer Reportage 2 und ergänzt, welche Rolle diese kriminellen Geschäfte beispielsweise bei der Etablierung einer lokalen rechten Jugendkultur spielten – mit dem für die Nazis positiven Nebeneffekt, dass die »Drecksarbeit« jene machen, die aufgrund ihres Alters dafür nicht oder kaum strafrechtlich belangt werden können.

Wieder Justizpannen bei Gericht in Erfurt

Die jüngsten Schläge der Behörden und Thüringens Polizei gegen die »Turonen« erfolgten mit Razzien im Februar 2021 und Mitte Juni dieses Jahres. Ende Juni begann dann im Congress Center der Messe Erfurt der von einem großen Polizeiaufgebot »abgesicherte« Prozess auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse beispielsweise bei den Durchsuchungen und den bei den »Turonen« zuvor umfangreich praktizierten Überwachungen. Die Staatsanwaltschaft Gera spricht in ihrer Anklage von knapp 200 Drogendeals zwischen Februar 2020 und März 2021 mit einem Gesamtumsatz von rund 800.000 Euro. Für diese Geschäfte wurden seitens der »Turonen« vermeintlich überwachungssichere Kryptohandys eingesetzt. Verhandelt wird gegen neun Angeklagte, die allesamt schweigen. Bis Prozessende im Dezember 2022 waren fast 20 Verfahrenstage angesetzt worden. Allerlei Justizpannen bei den bisherigen Verhandlungen in den letzten Wochen – zum Beispiel bei Ladungen von Prozessbeteiligten – ließen aber Zweifel aufkommen, ob dieser Plan aufgehen kann. Am 23. August meldete der MDR dann, der Prozess müsse wegen »Erkrankung« des rechten Szeneanwalts Waldschmidt, der zu den Hauptangeklagten gehört, bis Oktober ausgesetzt werden.

Razzien bei den »Turonen«

Mit einem schwerbewaffneten SEK war im Februar 2021 u.a. das »Gelbe Haus« in Ballstädt bei Gotha im Fokus, das Anwesen galt als Zentrale der »Turonen«. Chef Thomas Wagner soll dort u. a. ein Tonstudio betrieben haben. Bei der Razzia fand man mehrere Langwaffen und rechte Devotionalien. Rund 600 Einsatzkräfte durchsuchten knapp 30 Gewerberäume und Wohnungen insbesondere in Thüringen, aber auch in Sachsen-Anhalt und Hessen. Acht Verdächtige im Alter zwischen 24 und 55 Jahren wurden in Untersuchungshaft genommen, offiziell wegen »bandenmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln in Verbindung mit Geldwäsche«. Insgesamt richteten sich die Maßnahmen gegen 21 Personen. Beschlagnahmt wurde 2021 nicht nur Bargeld in Höhe von 120.000 Euro, sondern auch etwa ein Kilogramm an Drogen wie Crystal Meth oder Kokain und Waffen, zwei delaborierte Granaten, eine teure Stretchlimousine sowie erhebliche Mengen von Tonträgern mit rechten Inhalten. Die Vorbereitung der Razzien zog das Dezernat 62 des Thüringer Landeskriminalamtes (LKA) an sich, das für organisierte Kriminalität zuständig ist. Bei der neuerlichen Razzia 2022 waren wieder hunderte Polizisten in Aktion, 26 Wohnungen und Geschäftsräume sind durchsucht worden. Gegen sieben Verdächtige wurden Haftbefehle vollstreckt, u. a. wegen bandenmäßigen Drogenhandels, Zwangsprostitution, Verstößen gegen das Waffengesetz und Geldwäsche. Diesmal seien durch die Ermittler Vermögenswerte in Höhe von rund 1,4 Millionen Euro sichergestellt worden, und man beschlagnahmte u. a. Betäubungsmittel, drei Handfeuerwaffen und mehrere Schreckschusswaffen. Insgesamt richteten sich die Razzien gegen 14 Personen.

1 https://kurzelinks.de/immo-turonen

2 youtube.com/watch?v=5z7oLdhLOYU

Maßgebliche Quellen für diesen Beitrag: taz, Belltower News, AIB, Thüringer Allgemeine, MDR, STRG F   (red)