Demokratische Militarisierung?

geschrieben von Beryl Bömer

11. Juli 2023

Wie arte versucht, das Polizeiproblem zu umgehen

Auch die großen Medien müssen sich mittlerweile mit der Kritik an der Polizei auseinandersetzen – vor allem in Frankreich. Neben den Verletzten und Toten der Gelbwesten-Bewegung sind bei den Protesten gegen die Rentenreform Straßenschlachten mit der Polizei wiederholt Ergebnis einer sich taub stellenden Regierung. Auch beim Sender arte beschäftigen sich aktuell drei Sendungen (alle in der Mediathek online) damit. Spricht sich arte etwa gegen die Militarisierung der Polizei aus? Das nicht, aber zumindest wird der Kritik an der Polizei in allen drei Dokumentationen ausgiebig nachgegangen.

Zunächst hat man den Eindruck von Neutralität. Es kommen »beide Seiten des Konflikts« zu Wort: Polizist*innen, Politiker*innen, Einsatzleiter, aber auch Betroffene von rassistischer Polizeigewalt, Angehörige von Ermordeten sowie Menschen mit Behinderung als Ergebnis von Polizeigewalt. Die Sendungen liefern Fakten, interviewen Wissenschaftler*innen – Statistiken über den Abbau von Polizeistellen und Folgen von Überarbeitung, Zahlen zu Verletzten auf Demos, Zahlen zur Nutzung von Gummigeschossen und zu den körperlichen Schäden, die durch deren Nutzung entstanden sind. Soweit, so gut. Man bekommt fast ein wenig Mitleid mit den überarbeiteten Polizeibeamten, einem bankrott gegangenen Waffenverkäufer und einem ahnungslosen Polizeioberbefehlshaber. Doch eigentlich erzählen diese Dokumentationen etwas anderes.

Fundamentale Kritik letztendlich entkräftet

So wird zwar eine schonungslose Kritik an der Polizei aufgegriffen – die Polizei sei rassistisch, Polizeigewalt nimmt zu und führt zu bleibenden körperlichen und psychischen Schäden, Menschen sterben, es gibt eine Militarisierung –, nur um diese fundamentale Kritik letztendlich zu entkräften. Polizeigewalt wird dargestellt als Ergebnis von Überforderung und Überarbeitung, schlechter Polizeitaktik, als Ergebnis schlechter Ausbildung oder falscher Nutzung von Waffen, in Einzelfällen auch als Ergebnis von Rassismus. An den Stellen, wo Unschuldige zu Schaden gekommen sind oder sogar ermordet wurden, würden eine Fehlerkultur, zivile Kontrolle, Transparenz, das Einhalten von Vorschriften und bessere Regelungen zur Waffennutzung Lösungen darstellen, wird hier suggeriert. Was nicht aufgezeigt wird: Wer sind diejenigen, die mehr Polizei wollen? Wem nützt mehr Polizei? Wer fühlt sich unsicher durch die Polizei? Anstatt Fragen von Machtverhältnissen nachzugehen behaupten die Autor*innen eine klassenlose Gesellschaft, in der es keine sich grundsätzlich widersprechenden Interessen gibt und versprechen als Lösung quasi eine demokratische Form der Militarisierung.

Diese vordergründig neutralen Fernsehformate betrachten eine bestimmte Erzählung als gesetzt – die Idee von einer »Gewaltspirale«, von »neuen Demos«, von »neuer Gegengewalt«. Hier wird nicht geschaut, woher sie kommt, wodurch sie ausgelöst wurde und wer sie verübt. Die Frage nach den politischen Inhalten wird schon lange nicht mehr gestellt. Was genau neu ist an Straßenschlachten, wenn wir sie mit den 1970er- oder sogar 1920er-Jahren vergleichen, bleibt offen. So sehr sich die Polizei an die Befriedung von Protest gewöhnt hat, so wenig wollen sich die Menschen auf der Straße wohl an ihre eigene Machtlosigkeit gewöhnen. In staatstragender Manier nutzt man stattdessen Worte, die passen: einige nicht-friedliche Straftäter. Nur da, wo die Opfer von Polizeigewalt »Unschuldige« sind oder schwarze Jugendliche, »die aufs Gymnasium gehen und aus ihrem Umfeld raus wollen«, wird zugehört und hinterfragt.

Größerer Kontext fehlt

So weigert sich arte, diese Entwicklungen in einen größeren Kontext zu stellen: Strafrechtsverschärfungen, das Ausweiten von polizeilichen Befugnissen, präventive Haft, das Aushöhlen von Bürgerrechten, die Abschaffung des Asylrechts, die Einschränkung der Versammlungsfreiheit, das in Deutschland seit der NS-Zeit bestehende Generalstreikverbot, die Legalisierung von Massenüberwachung, normalisiertes und kaum skandalisiertes illegales Handeln der Sicherheitsbehörden. In Deutschland, in Frankreich, in ganz Europa stehen die Zeichen zunehmend auf Post-Demokratie, Remilitarisierung und wachsenden Autoritarismus. Angst, Gewalt, Kontrolle, Überwachung und Disziplinierung sind alles Mittel des Regierens – diese lassen sich nicht demokratisieren. Der neoliberale Trend von »Partizipation« und »Bürgernähe« sollte nicht verwechselt werden mit dem, was Demokratie wirklich meint.

Wer sich wirklich inspirieren lassen will, sollte sich die abolitionistische Bewegung in den USA anschauen, die für radikale Reformen auf dem Weg zur Abschaffung der Polizei eintritt. Dieser geht es darum, wie Sicherheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit anders gedacht werden können als im herrschaftlichen Diskurs. Da dies nicht ohne die Anerkenntnis von Klassengegensätzen passieren kann, ist auch die Frage nach dem Warum wichtig. So bietet Joshua Clover eine marxistische Analyse dazu, dass der Aufstand zunehmend das politische Mittel der Machtlosen ist, in Zeiten, in denen der reguläre Streik aus materialistischer Sicht sein machtpolitisches Potenzial verwirkt hat.

arte-Dokumentationen

»Feindbild Polizei. Gewalt und Gegengewalt ohne Ende?«, Regie: Sebastian Bellwinkel, 2020, 79 min, Zweiteiler: »Im Namen der Sicherheit. Neue Demos, neue Polizeigewalt«, Regie: Paul Moreira, 2020, 112 min

»Feindbild Polizei. Gewalt und Gegengewalt ohne Ende?«, Regie: Sebastian Bellwinkel, 2020, 79 min, Zweiteiler: »Im Namen der Sicherheit. Neue Demos, neue Polizeigewalt«, Regie»27 – Das europäische Magazin«: »Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigkeit?«, Moderation: Nora Hamadi und Corentin Chrétien Droz, 2021, 46 min

»27 – Das europäische Magazin«: »Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigkeit?«, Moderation: Nora Hamadi und Corentin Chrétien Droz, 2021, 46 min

»27 – Das europäische Magazin«: »Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigkeit?«, Moderation: Nora Hamadi und Corentin Chrétien Droz, 2021, 46 min

Zum Weiterlesen

Abolition. Feminism. Now. Mit Beiträgen von Angela Davis, Gina Dent, Erica R. Meiners und Beth E. Richie. Auf englisch erschienen bei Penguin UK, 250 Seiten, 16,99 Euro

Joshua Clover, Karl-Heinz Dellwo (Hg.): Riot. Strike. Riot. Die neue Ära der Aufstände. Galerie der abseitigen Künste, Hamburg 2021, 240 Seiten, 19 Euro