Eine polizeiliche Deutungsweise

11. Juli 2023

Das Forschungsprojekt »Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen«. Gespräch mit Hannah Espín Grau

antifa: Das Projekt »Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen« benennt einen Straftatbestand. Gefragt wurden die Betroffenen aber nach »übermäßiger Gewaltanwendung«, also gerade nicht nach rechtswidrigen Taten, sondern nach »Überschreitungen der Grenzen des Akzeptablen«. Warum?

Hannah Espín Grau: Unser Ausgangspunkt war durchaus die juristische Formulierung. Die staatsanwaltschaftliche Statistik zeigt, dass die allermeisten Verfahren wegen Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen eingestellt werden. Wir haben uns gefragt: Was ist mit den Fällen, die gar nicht erst angezeigt werden? Was ist mit den Fällen, die eingestellt werden? Um uns dem zu nähern, brauchten wir einen Begriff, der nicht diese juristische Definition umfasst. Übermäßigkeit meint in unserem Verständnis, dass Gewalt aus mindestens einer Perspektive als problematisch begriffen wird. Es muss gar nicht sein, dass das Recht von dem abweicht, was gesellschaftlich als problematisch gilt, sondern es ist eine Reflexion dessen, wie in der Gesellschaft Gewalt verhandelt wird.

antifa: Wie haben Sie die Betroffenen erreicht?

Espín Grau: Einerseits haben wir früh Organisationen kontaktiert, von denen wir dachten, dass sie Kontakt zu Betroffenen haben, zum Beispiel Fangruppen, politische Gruppen und Flüchtlingsberatungsstellen. Es gibt aber auch Personen, die überhaupt nicht organisiert sind. Das sind vor allem Angehörige der weißen deutschen Dominanzgesellschaft, die etwa bei einer Lärmbelästigung Erfahrungen mit Polizeigewalt machen und keine Anlaufstellen haben. Die haben wir versucht, über Öffentlichkeitsarbeit zu erreichen.

antifa: Wie viele Betroffene erstatteten Anzeige?

Hannah Espín Grau forscht zu polizeilicher Gewalt und ihrer Aufarbeitung. Sie ist Teil des Forschungsprojekts KViAPol.

Hannah Espín Grau forscht zu polizeilicher Gewalt und ihrer Aufarbeitung. Sie ist Teil des Forschungsprojekts KViAPol.

Espín Grau: Insgesamt haben nur neun Prozent der Befragten Anzeige erstattet. Ganz viele haben sich beraten lassen und entscheiden sich dann – trotz der Beratung oder gerade deswegen, weil ihnen in anwaltlichen Beratungen abgeraten wurde – gegen eine Anzeige. Interessanterweise ist in unserer Studie der Anteil an Anklagen ein bisschen höher im Vergleich zur staatsanwaltlichen Statistik. Das weist aber eher darauf hin, dass an der Studie Betroffene teilgenommen haben, für die es tatsächlich ein gravierender Fall war, den auch die Staatsanwaltschaft als solchen anerkannt hat.

antifa: Welche Gemeinsamkeiten konnten Sie zwischen der Betroffenenbefragung und den Expert*innen-Interviews feststellen?

Espín Grau: Die Betroffenen und die Polizeibeamt*innen beschreiben oft gleiche Umstände, aber bewerten sie unterschiedlich. Der Begriff Gegenanzeigen wird sowohl von den Betroffenen als auch der Polizei verwendet und jeweils als Affront gewertet und auch als Reaktion auf das, was eben als das Richtige betrachtet wird. Beim Thema Kommunikation sagen viele Betroffene, dass sich die Polizei unhöflich verhält, dass sie etwa duzt und dies zu einer aggressiven Grundstimmung beiträgt. Die Polizist*innen meinen wiederum, man müsse »milieuspezifisch« mit den Personen reden. Das sind Beschreibungen der gleichen polizeilichen Verhaltensweisen, aber eben in einer komplett unterschiedlichen Deutung.

antifa: Wie waren die Reaktionen der Öffentlichkeit?

Espín Grau: Sehr unterschiedlich. Als wir 2018 angefangen haben, gab es in Deutschland kaum Me-dienberichterstattung außer zu herausragenden Fällen, wie dem von Oury Jalloh. Das hat sich vor allem seit der Black-Lives-Matter-Bewegung sehr stark verändert. Was ich ganz interessant fand: Als wir unsere Ergebnisse veröffentlicht haben, gab es sehr viel Medienaufmerksamkeit. Ich hatte den Eindruck, dass den Polizeigewerkschaftlern, die daraufhin inter-viewt wurden, mehr kritische Fragen gestellt wurden. Bei unserer Veröffentlichung wurde der Betroffenheitsstatus nicht mehr so stark in Frage gestellt, und es scheint die Tendenz zu geben, Probleme in der Polizei als solche anzuerkennen. Euphorisch bin ich deswegen aber nicht, denn relevant wäre, dass nicht immer die polizeiliche Perspektive in den Fokus gerückt wird, sondern, dass auch die Communities gefragt werden. Es ist ein Ergebnis unserer Forschung, dass sich die polizeiliche Deutungsweise fast immer durchsetzt und zwar nicht nur im Strafverfahren, sondern auch gesellschaftlich. Es gibt eine große Akzeptanz in der weißen Dominanzgesellschaft für die Polizei. Mein Eindruck ist, dass bei dieser Veröffentlichung der Betroffenheitsstatus nicht mehr so stark in Frage gestellt wird, und die Tendenz besteht, Probleme in der Polizei als solche anzuerkennen.

antifa: Wie geht es jetzt weiter?

Espín Grau: Wir kriegen viele Anfragen – auch von der Polizei, die die Forschungsergebnisse in ihre Aus- und Fortbildungsmaßnahmen integrieren will. Die Diskussion der Erkenntnisse wäre aber auch in der Justiz wichtig. Es wird auch darum gehen, neue Forschungsprojekte anzusetzen, zum Beispiel zu schauen, wie die Erledigungspraxen bei den Staatsanwaltschaften in anderen Deliktsbereichen sind und was diese mit race und class zu tun haben. Auch die Richter*innenschaft ist in Deutschland wenig erforscht. Da gibt es noch einige Themen.

Laila Abdul-Rahman, Hannah Espin Grau, Luise Klaus, Tobias Singelnstein: Gewalt im Amt. Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung. Campus, 2023, 496 Seiten, Download: kviapol.uni-frankfurt.de
Befragt wurden über 3.300 Betroffene von Polizeigewalt. Außerdem wurden 63 Interviews mit Polizist*innen, Richter*innen, Staatsanwälten, Opferberatungsstellen und Anwälten geführt. Als Kontext wurden Großveranstaltungen wie Demos oder Fußballspiele und Konfliktsituationen oder Personenkontrollen benannt. Betroffen waren meist junge Männer, als Ausübende wurden junge Beamte beschrieben. 19 Prozent der Betroffenen berichteten von schweren körperlichen Verletzungen. Als psychische Folgen wurden »Wut und Angst vor der Polizei«, »höhere Wachsamkeit« und das Meiden bestimmter Orte und Situationen genannt. Auslöser waren laut Polizei überwiegend mangelhafte Kommunikation, Stress, Überforderung, diskriminierendes Verhalten und inadäquate Einsatzplanung. Auf Betroffenenseite wurden Fragen zur Rechtmäßigkeit der Maßnahme, Diskussionen, Beleidigungen und Respektlosigkeiten als Auslöser für die Gewalt genannt.

Das Interview führte Alena Lagmöller