Historische Niederlage

geschrieben von Dorothee Bruch und Vanessa Höse

11. Juli 2023

Die geplante »Reform« der EU-Asylpläne ist ein Anschlag auf die Menschenrechte

Am 14. Juni ertranken bis zu 600 Menschen bei Pylos vor der griechischen Küste. Ungeklärt ist, welche Rolle die griechische Küstenwache, die laut Überlebenden das Schiff in einem riskanten Manöver abzuschleppen beziehungsweise in italienische Gewässer abzuschieben versuchte, und die unterlassene Hilfeleistung der bereits zwölf Stunden zuvor informierten maltesischen und italienischen Behörden spielten. Jedes dieser verlorenen Menschenleben ist ein unfassbares Unglück.

Auslegungsfrage der Grenzbehörden

Nur einige Tage vor der Schiffskatastrophe einigte sich der Europäische Rat am 8. Juni auf die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat, auch mit Zustimmung der grünen Kabinettsmitglieder, dafür gestimmt, dass Menschen mit geringer Bleiberechtsperspektive in der EU sogenannte Grenzverfahren durchlaufen. Diese betreffen Menschen aus Ländern mit einer Schutzquote von unter 20 Prozent, ebenso Personen, bei denen die Behörden Falschangaben unterstellen, und Menschen, die über als sicher eingestufte Drittstaaten eingereist sind. Wird der Asylantrag für unzulässig oder unbegründet erklärt, sollen die Betroffenen unmittelbar in ihre Herkunftsländer oder in sogenannte sichere Drittstaaten abgeschoben werden (dazu zählen auch Staaten, in denen nur Teile als sicher eingestuft werden). Eine individuelle Anhörung gibt es dabei nicht; die Entscheidung wird somit zu einer Auslegungsfrage der Grenzbehörden. Bis zu drei Monate können die Schutzsuchenden in Lagern interniert werden, die die Zustände von Moria bald zum Normalfall für hunderttausende Menschen an den europäischen Außengrenzen zu machen drohen. Unbegleitete minderjährige Geflüchtete wurden zwar von dieser Regelung ausgenommen, Familien mit Kindern sind im aktuellen Entwurf jedoch einbezogen. Die neuen EU-Asylpläne sehen zudem vor, dass in nordafrikanischen Ländern wie Tunesien Asylzentren eingerichtet werden, in denen Grenzverfahren durchgeführt werden sollen. Um die Staaten an den Außengrenzen zu entlasten, sollen jährlich mindestens 30.000 Schutzsuchende in andere EU-Mitgliedstaaten umverteilt werden. Staaten, die sich an der Umverteilung nicht beteiligen, müssen Ausgleichszahlungen leisten – entweder in Form eines Finanzbeitrags oder in Form von Personal zum Aufbau von Kapazitäten im EU-Asyl- und Grenzregime.

Die verschärfte EU-Abschottungspolitik führt dazu, dass flüch-tende Menschen nun noch gefährlichere Wege in Kauf nehmen müssen. Das Ertrinken der vielen Menschen am 14. Juni vor der griechischen Küste ist nur ein weiterer dramatischer Höhepunkt des Sterbenlassens und des europäischen Grenzregimes. Seit 2014 zählt die IOM mehr als 27.000 Tote und Vermisste im Mittelmeer. In diesem Jahr sind es bereits über 1.700 Tote, so viele wie seit 2017 nicht mehr. Foto: XENION

Die verschärfte EU-Abschottungspolitik führt dazu, dass flüch-tende Menschen nun noch gefährlichere Wege in Kauf nehmen müssen. Das Ertrinken der vielen Menschen am 14. Juni vor der griechischen Küste ist nur ein weiterer dramatischer Höhepunkt des Sterbenlassens und des europäischen Grenzregimes. Seit 2014 zählt die IOM mehr als 27.000 Tote und Vermisste im Mittelmeer. In diesem Jahr sind es bereits über 1.700 Tote, so viele wie seit 2017 nicht mehr. Foto: XENION

Die geplante GEAS-Reform ist ein Anschlag auf die Menschenrechte, auf die Kinderrechtskonvention und auf internationales Völkerrecht. Sie wird die katastrophalen Zustände, die in den Haftzentren auf den griechischen Inseln bereits Realität sind, ebenso wie die bislang rechtswidrige und vielfach dokumentierte Pushback-Praxis an den EU-Außengrenzen legalisieren. Sie wird dazu führen, dass flüch-tende Menschen nun noch gefährlichere Wege in Kauf nehmen müssen, um nach Europa zu gelangen. Zu XENION, einem psychosozialen Zentrum für Geflüchtete in Berlin, kommen Menschen, die aufgrund der Masse an traumatischen Erfahrungen und massiv belastenden Lebensbedingungen psychisch krank werden. Dies liegt nicht nur an dem Erlebten und der Situation in den Herkunftsländern, sondern auch an den Erlebnissen auf der Flucht – sei es in Transitländern wie Libyen, an der polnisch-belarussischen Grenze, in griechischen Lagern oder auf der Passage über das Mittelmeer – und den damit zusammenhängenden fortlaufenden Menschenrechtsverletzungen.

»Solidarische Migrationspolitik« als Farce

Die Behauptung von Innenministerin Faeser, dass der GEAS-Beschluss ein »historischer Erfolg […] für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten« sei, ist eine Farce. Die Verabschiedung von dem Grundrecht auf Asyl auf europäischer Ebene ist trauriger neuer Höhepunkt einer menschenfeindlichen Migrationspolitik, an der die deutsche Regierung aktiv mitgewirkt hat.

Als der Bundestag am 26. Mai 1993 mit dem sogenannten Asylkompromiss eine Grundgesetzänderung verabschiedete und damit das Grundrecht auf Asyl entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention aushöhlte, gingen hunderttausende Menschen auf die Straße. Sechs Tage später wurde das Haus der Familie Genç in Solingen von Rechten angezündet. Wer heute behauptet, dass die Asylverschärfungen dem gesellschaftlichen Drift nach rechts etwas entgegensetzen würden, hat aus der Geschichte nichts gelernt: Der neue Asylkompromiss schürt die Migrationsfeindlichkeit, den Rassismus und die zunehmende Gewalt gegenüber Geflüchteten. Was wir brauchen, ist eine uneingeschränkte Solidarität mit allen Schutzsuchenden, gleiche Rechte für alle, sichere Fluchtwege und eine gute psychosoziale Versorgung für alle, die sie brauchen.

XENION – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e. V.

Seit 1986 versorgt und begleitet XENION Opfer von Folter, Krieg und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen, die als Geflüchtete nach Berlin gekommen sind. Unser Ziel ist es, sie bei der Wiedererlangung eines selbstbestimmten eigenen Lebens, der Durchsetzung ihrer Rechte und ihrer gesellschaftlichen Teilhabe zu unterstützen.

Infos: xenion.org und Social Media.

Spendenmöglichkeiten:
https://bit.ly/XENION_Spenden

Die beiden Autorinnen des Beitrags arbeiten bei XENION

Der Bundesausschuss der VVN-BdA hat im Juni die Erklärung »Nein zur Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems« beschlossen. Siehe kurzelinks.de/vvn-asyl und auf den Länderseiten