Tor zur Sklaverei

geschrieben von Ulrich Sander

11. Juli 2023

Ein Buch zur Rolle Hamburgs für den deutschen Kolonialismus

München als Stadt der Nazibewegung. Potsdam und Berlin als Herzen des Militarismus. So weit, so bekannt. Aber: Hamburg die Metropole des deutschen Kolonialismus? Die Stadt war Tor zur Welt. Und nun ist zu erfahren, dass eines der größten Menschheitsverbrechen – nach dem Holocaust – von Hamburg ausgegangen ist: im neuen Buch »Zucker, Schnaps und Nilpferdpeitsche – Wie hanseatische Kaufleute Deutschland zur Kolonialherrschaft trieben« des Spiegel-Redakteurs Dietmar Pieper.

Es zeigt auf: Schon im 17. Jahrhundert strebten Hamburger Kaufleute in alle Welt, beschafften »Kolonialwaren«. Sie brachten Sklaven von Afrika nach Amerika, und ihre Schiffe kamen hochbeladen mit Kaffee, Gewürzen, Hölzern und Weinen zurück. Tausende Sklaven verblieben auf Besitzungen der hanseatischen Sklavenhalter in Übersee.

Pieper macht deutlich, dass der deutsche Kolonialismus keine Gründung des deutschen Staates war; dieser entstand erst später. Auch auf diesem Sektor kam Deutschland zu spät, lange nach den Niederlanden, Spanien, Großbritannien, Portugal und Frankreich. Ohne die hanseatischen Unternehmer hätte es die deutschen Kolonien nicht gegeben. Die Deutschen in Afrika und China waren berüchtigt für ihre Prügelstrafen, Zwangsarbeit war unter ihrem Regime die Regel. Die Nilpferdpeitsche war nicht nur ihr Symbol.

Nach 1880 gelang es diesen Geschäftsleuten geschickt, die nationale Karte zu spielen: Ihre afrikanischen und pazifischen Niederlassungen sollten im deutschen Interesse durch die deutsche Regierung militärisch geschützt werden. Erst dadurch wurde die Gründung von Kolonien zu einem politischen Anliegen, dem sich Reichskanzler Otto von Bismarck nicht mehr verschließen konnte. Er berief eine internationale Afrikakonferenz ein, um die Interessen der imperialistischen Mächte abzustimmen. Das größte Bismarck-Denkmal der Welt errichteten für ihn die Hanseaten in Hamburg. Als Wilhelm II. dann dran kam und Bismarck abtreten musste, steigerte sich der deutsche Kolonialismus zum Völkermord.

Dietmar Pieper: Zucker, Schnaps und Nilpferdpeitsche – Wie hanseatische Kaufleute Deutschland zur Kolonialherrschaft trieben. Piper, München 2023, 343 Seiten, 24 Euro

Dietmar Pieper: Zucker, Schnaps und Nilpferdpeitsche – Wie hanseatische Kaufleute Deutschland zur Kolonialherrschaft trieben. Piper, München 2023, 343 Seiten, 24 Euro

Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Truppen nach Südwestafrika, ins heutige Namibia, gesandt. So manch ein Hamburger hat gejubelt bei der Abfahrt – und auch bei der Rückkehr. Kommandant Lothar von Trotha, der hauptsächlich verantwortliche Feldherr, war populär. Seine Bilanz: Fast 100.000 Herero und Nama starben. Erschossen, in die Wüste getrieben, verhungert, verdurstet. Von Trotha selbst und Tausende von Soldaten waren mit den Schiffen des Reeders und Kaufmanns Adolph Woermann transportiert worden. Besonders aktiv war dessen Firma in Kamerun. Dort überredete Woermann die Könige, ihm die ganze Verwaltung und Schätze ihres Landes zu übertragen. Er zahlte mit Schnaps. Das verbrecherische System währte bis Kriegsende 1918, berichtet Pieper. Der dreihundert Jahre lang infolge des Kolonialismus gepflegte Rassismus blieb Bestandteil des Alltagsbewusstseins. Die organisierte Arbeiterbewegung wehrte den Rassimus ab, aber er brach und bricht sich immer wieder Bahn. Eine Aufarbeitung der kolonialistischen Vergangenheit fand in der Weimarer Republik nicht statt. Im Jahr 1931 beendete der Hamburger Tierpark Hagenbeck seine widerlichen Völkerschauen. Hier endet die faktenreiche Schilderung Piepers.

Doch kolonialistische Bewegungen gab es weiter. Der Reeder Kurt Woermann gehörte im November 1932 zu den Unterzeichnern der Eingabe an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg mit der Forderung, Adolf Hitler zum Reichskanzler zu machen. Insgesamt kommt das Thema »Die Nazis und der Kolonialismus« im neuen Buch nur in Nebensätzen vor, obwohl Sklavenarbeit, Zwangsarbeit in brutalster Form – bis zur Vernichtung durch Arbeit – zu Kennzeichen des Naziregimes wurden. Doch der Versuch, die verlorenen Kolonien zurückzugewinnen, unterblieb. Schon Anfang der 1920er-Jahre schrieb Hitler: »Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.« (aus Hitler »Mein Kampf«)

Die Bearbeitung des Kolonialismus nach 1945 erfolgt in dem Buch abschließend unter dem wichtigen Gesichtspunkt, dass möglichst die Behandlung des völkermordenden Kolonialismus das Jahrtausendverbrechen des Vernichtungskriegs und des Holocaust nicht in den Schatten stellt. Es wird zu Recht betont, dass extreme Rechte nicht in die Lage versetzt werden dürfen, den Holocaust zu relativieren, indem man sagt: Die anderen haben es auch getan. Zu untersuchen wäre, wie Begriffe der Kolonialzeit in den politischen Sprachgebrauch von heute Eingang fanden; zum Beispiel die Rede von den »freien Handelswegen und dem Zugang zu Rohstoffen« in den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr.

Hamburg kämpfe derzeit mit dem Vorwurf der Geschichtsvergessenheit, schreibt Pieper in dem sehr auskunftsreichen Buch. Noch immer sind einige Straßen nach deutschen Kolonialherren benannt. Das »Museum für Völkerkunde« bekommt einen neuen Namen und eine neue Ausrichtung.