Wir werden gebraucht

11. Juli 2023

Zur zehnjährigen Neugründung von Hashomer Hatzair in Deutschland. antifa-Gespräch mit Nitzan Menagem

antifa: Voriges Jahr habt ihr als Hashomer Hatzair das zehnjährige Jubiläum eurer Neugründung in Deutschland gefeiert. Wo steht ihr gerade?

Nitzan Menagem: Die Organisation besteht zwar seit zehn Jahren wieder, aber erst seit drei Jahren mit neuem Vorstand und der Vision, in der deutschen Gesellschaft bekannter werden zu wollen. Eigentlich könnte der Verband schon 92 Jahre alt sein, wurde aber erst vor rund zehn Jahren neu gegründet und ist seitdem langsam gewachsen. Das lag auch an den bürokratischen Hürden, die uns als migrantischer Organisation bei dem Vorhaben, eine Jugendorganisation in Deutschland zu gründen, im Weg standen. Wir sind der erste jüdische Jugendverband im Landesjugendring Berlin seit der Neugründung 1949 und komplett unabhängig von jüdischen Institutionen, wie beispielsweise dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Das gibt uns Entscheidungs- und Kritikfreiheit. Jetzt ist die Organisation in einer Phase, in der es darum geht, sich strukturell nachhaltig aufzubauen.

antifa: Wie kam es zu der Entscheidung, den deutschen Zweig von Hashomer Hatzair wieder aufleben zu lassen?

Nitzan: Auf der einen Seite gab es eine große Welle von Israelis, die nach Berlin kamen, auf der anderen Seite die langjährige Freundschaft und Kooperation von Hashomer Hatzair Israel mit den Falken. Daraus entstand die gemeinsame Entscheidung, Hashomer Hatzair zurückzubringen, aus dem Gefühl heraus, dass wir gebraucht werden, um einen Raum zu schaffen für linke säkulare Juden in Deutschland. Vorher hatte es die Entscheidung gegeben, Hashomer Hatzair in der Welt wieder aufzubauen, aber nicht in Deutschland, eben wegen der schrecklichen Geschichte. Es war also eine emotionale Entscheidung.

Nitzan Menagem ist Vorsitzende des deutschen Zweigs von Hashomer Hatzair, einer internationalen sozialistischen und zionistischen Jugendorganisation. Schon als Kind war sie Mitglied der Organisation in Israel. Foto: Merav Maroody

Nitzan Menagem ist Vorsitzende des deutschen Zweigs von Hashomer Hatzair, einer internationalen sozialistischen und zionistischen Jugendorganisation. Schon als Kind war sie Mitglied der Organisation in Israel. Foto: Merav Maroody

antifa: In den letzten Jahren haben sich eure Wege mit denen der VVN-BdA häufig gekreuzt. Wie ist eure Verbindung zu ihr?

Nitzan: Wir arbeiten schon lange mit der VVN zusammen, zum Beispiel rund um das Gedenken an die Novemberpogrome in Berlin. Letztes Jahr fanden wir dann heraus, dass mindestens sieben unserer Mitglieder in der Herbert-Baum-Gruppe aktiv waren. Herbert Baum war sogar offizielles Mitglied bei Hashomer Hatzair, wahrscheinlich aus Solidarität. Bei der Gedenkveranstaltung zur Herbert-Baum-Gruppe letztes Jahr habe ich dann eine Rede gehalten. Während ich sie vorgelesen habe, dachte ich: Wow, es ist unglaublich, dass wir hier präsent sind. 80 Jahre war die Herbert-Baum-Gruppe nicht vertreten. Deswegen ist es uns so wichtig, linke Erinnerungsarbeit zu unterstützen. Unser Jubiläumsjahr haben wir dann der Spurensuche gewidmet.

antifa: Wie sah diese Spurensuche aus? Was habt ihr herausgefunden?

Nitzan: Neben viel Archivarbeit wurde versucht, Fotos und andere Dinge zu finden, die sich besser eignen zur Bildungsarbeit mit Kindern als beispielsweise Tagebücher. Inspiriert wurde das Projekt durch ein Gespräch im Jahr 2021 mit einem ehemaligen Mitglied, Rudi Haymann. Er ist jetzt 101 Jahre alt und berichtete unseren Jugendlichen von seinen Erfahrungen mit Hashomer Hatzair in den 1930ern in Berlin. Leider sind wir zu spät dran, um mit vielen ehemaligen Mitgliedern zu sprechen. Es geht also nicht um akademische Forschung, sondern darum, die Geschichte der alten Mitglieder und ihrer Nachkommen kennenzulernen und als Teil der zukünftigen Arbeit zu verstehen. Insgesamt haben wir Spuren von rund 300 Mitgliedern von ungefähr 1.200 in den 1930ern gefunden.

antifa: Wie habt ihr die Ergebnisse eurer Recherche für eure Arbeit mit Jugendlichen verarbeitet?

Nitzan: Aus der Forschungsphase entstand in Zusammenarbeit mit Pädagog_innen und Aktivist_innen ein Kartenspiel. Wir wollen es als Bildungsmaterial nutzen, um vom Leben linker Juden und Jüdinnen vor dem Krieg zu erzählen. Ein Brettspiel könnte folgen. Die Karten unseres Hashomer-Hatzair-Quartetts »Chaverschaft« (Kameradschaft) erzählen die Geschichte von 14 Mitgliedern: zwei Schwesternpaaren, die Widerstandskämpferinnen der Herbert-Baum-Gruppe waren, Alice und Hella Hirsch sowie Eva und Hildegard Loewy. Die Joker-Karte erinnert an Romi, von der wir durch Erzählungen wissen. Sie steht symbolisch für all jene, die wir durch unsere Recherche leider nicht finden konnten, weil sie unauffindbar flüchten mussten oder die Nazis sie ermordet haben. Außerdem war es längst überfällig, neben der Straßenbenennung nach Alice und Hella Hirsch und kleineren Gedenktafeln für die Loewys, auch Stolpersteine für beide Familien vor ihren ehemaligen Wohnhäusern zu verlegen. Das haben wir im vergangenen November endlich nachgeholt. Jetzt ist die Erinnerung an sie im Berliner Stadtbild ein kleines bisschen präsenter.

antifa: Was bedeuten eure Rechercheergebnisse für eure zukünftige Arbeit?

Nitzan: Eine Erkenntnis war, dass die linken Juden in Deutschland Hashomer nicht gebraucht haben. Jüdinnen und Juden haben 1913 in Galizien angefangen, wegen des Antisemitismus, aber auch der linken Utopie in Israel, einen sozialistischen Staat zu errichten. Hier in Deutschland wurde die Organisation erst 1931 in Mannheim gegründet. Wir vermuten, dass die Leute damals nicht wirklich starke Zionisten waren, aber sie verstanden haben, dass Israel ein Weg raus aus Deutschland sein kann, um zu überleben. Über die Geschichte zu sprechen und darüber, was Zionismus war, nicht, was Zionismus heute ist, wie Netanjahu ihn besetzt, ist auch wichtig für uns. Im Zentrum aber steht die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unter der jüdischen Idee von Tikkun Olam, einem schomerischen, vom Judentum inspirierten Prinzip, die Welt für alle Menschen gleichermaßen zu reparieren. Eben, dem Arbeiten an einer besseren Welt – oder unserer Gesellschaft, wo wir leben.

Das Gespräch führte Kristin Caspary