Nüchtern abgerechnet
1. November 2019
Was die »Wiedervereinigung« gebracht hat
Pünktlich zum 3. Oktober, an dem der Jahrestag des wiedervereinigten Deutschland gefeiert wurde, lag eine ernüchternde Nachdenkhilfe von Daniela Dahn in den Buchhandlungen.
»Was will dieses Buch? Es ist kein Buch über die DDR, sondern über die 30 Jahre danach. Es gilt, Bilanz zu ziehen, was nicht nur der Mauerfall, sondern der Wegfall des bisherigen Realsozialismus an dem angeblich unbetroffenen Westen eigentlich bewirkt hat. Wie hat sich dieses Land in diesem Europa, in dieser Welt in den letzten 30 Jahren verändert? heißt die Frage.« (S. 17)
In ihrem sorgfältig recherchierte Text »Die Einheit – eine Abrechung« untersucht sie nicht zornig, wohl aber nüchtern auch Legenden aus Festtagsreden und Leseartikeln.
»Innerhalb kürzester Zeit gelangten in derart kolonialer Manier 95% des Volkseigentums in die Hände westlicher Unternehmer. Dadurch wurden die Ostdeutschen zu der Bevölkerungsgruppe in Europa, der am wenigsten von dem Territorium gehört, auf dem sie leben. Ihr Bodenreformland, die Betriebe und Großkombinate wurden unter Konditionen privatisiert, die sie selbst aus dem Prozeß weitgehend ausschlossen. Weder gehörten sie zu dem vernetzten Filz, der jetzt zuschlug, noch hatten sie das nötige Geld noch die Kreditwürdigkeit noch die Vorzugsbedingungen, die Alteigentümern eingeräumt wurden. Egon Bahr kommentierte damals bitter: ›In Ostdeutschland sind feudale, frühmittelalterliche Eigentumsstrukturen geschaffen worden, wie sie selbst in Afrika und im Orient vor zwei Generationen überwunden wurden.‹ Es war schon erstaunlich, wie groß das Kaufinteresse an als ›total marode‹ beschriebenen Betrieben war.«
Daniela Dahn will ihre Leser zum Mitdenken herausfordernd erinnern und hofft, dass sie so lernen, lückenhafte Erinnerungen sachgerechter zu verknüpfen.
Der Dichter Erich Fried, der den Holocaust im englischen Exil überlebte, hält »Erinnern« sogar für die wichtigste Denk-Arbeit des Menschen:
Denn ich kann nicht denken, / ohne mich zu erinnern, / Denn ich kann nicht wollen, / ohne mich zu erinnern, / Denn ich kann nicht lieben, / Denn ich kann nicht hoffen, / Denn ich kann nicht vergessen, / ohne mich zu erinnern. / Ich will mich erinnern an alles, / was man vergißt, / denn ich kann nicht retten, / ohne mich zu erinnern, / auch mich nicht und nicht meine Kinder.
Wenn Erich Fried noch leben würde, hätte ich ihm postwendend dieses Buch geschickt.
»Wir haben unsere Revolution wie Esau sein Erstgeborenenrecht für das Linsengericht verkauft, sagt heute der Theologe und Mitbegründer des Neuen Forums, Heiko Lietz. Aber der Erwerber kann mit unserem Recht, mit seinem Sieg nicht anfangen.
Als sich das sozialistische Lager mit Selbstgefallen auflöste, erlag das westliche dem Irrtum, der Markt-Fundamentalismus sei endgültig der Weisheit letzter Schluss, was er für die Finanz-Oligarchie auch ist. Als folgerichtig das Ende der Ideengeschichte ausgerufen wurde, hielt dem der marxistisch geschulte Osten entgegen, der Kapitalismus habe nicht gesiegt, er sei nur übriggeblieben. Und das genüge nicht für Endgültigkeit. 30 Jahre nach dem sogenannten Mauerfall ist gewiss, dass auch der Kapitalismus nicht übrigbleiben wird. » (S. 256)
Ich bedanke mich bei Daniela Dahn, dass sie unbeirrt doch noch die Mühe zu einem achten Buch auf sich genommen hat, das eine freundschaftliche Herausforderung ist, im persönlichen Erinnern wie in Diskussionen die eigene Position zu überprüfen. Und endlich gibt es mit diesem Buch auch einen für erwachsene Enkel lesbaren Text!
»Der Kalte Krieg gegen den Sozialstaat hinterlässt eine andere Republik, in der Grundrechte und Demokratie verfallen«, lautete die Anklage von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Theologen und Gewerkschaftlern aus West und Ost im Januar 1997. Wir forderten erstmalig einen Politikwechsel zu Rot-Rot-Grün. Diese ›Erfurter Erklärung‹ brachte den Choleriker Kohl in Rage. Er beschimpfte uns als ›intellektuelle Anstifter‹ (was sonst ist die Aufgabe von Intellektuellen?), wir würden uns zusammenrotten und ›unser Haupt erheben‹ und wandelten auf der Straße des Verrats.« (S. 61)
»Ich habe in diesem Buch zu zeigen versucht, dass die ›Fehler‹ der postsozialistischen Zeit keine Versehen waren, sondern Absicht.
Daran zu erinnern, ist nicht unwichtig. Inzwischen geht es aber nicht mehr darum, ob dieses oder jenes zu vermeiden gewesen wäre. Das Dilemma ist nicht, dass der Osten noch kein richtiger Westen geworden ist. Das Dilemma ist eher, dass er sich schon zuviel angenähert hat. Heute bin ich mir noch sicherer, dass der eigentliche Fehler darin bestand, dem falschen System beizutreten… es geht ums Maßhalten zwischen Extremen: Konsummaschine oder Klimaschützer? Luxus oder Limit? Unsere nachträgliche Kritik an der Kapitalmaschine konnte an den Machtverhältnissen nichts ändern…« (S. 280)
Also: Das Buch lesen, darüber ausführlich diskutieren – und verschenken!