Magische Kugeln
5. August 2020
Der Modus des Verschwörungsdenkens
Diskussionen mit Verschwörungstheoretikern sind entnervend, weil sie Daten, Fakten und Argumente ignorieren, leugnen und missverstehen. Sie wissen gar nicht, was Daten, Fakten und Argumente sind. Oder etwas neutraler formuliert: es prallen unvereinbare Vorstellungen über das Verständnis der Welt aufeinander.
Im Grunde ist das nicht überraschend. Es ist ja auch erst 300 Jahre her, also praktisch gestern, dass sich die Prinzipien der Aufklärung und mit ihnen die eng verbundenen klassischen Prinzipien der Wissenschaft durchzusetzen begannen. Die kann man ob ihrer eigenen blinden Stellen wiederum aus moderner Perspektive kritisieren, muss sie aber gegenüber dem voraufklärerischen Denken verteidigen. Die Aufklärung versprach – Ergebnisse gemischt – Rationalität als Grundlage für die Überwindung fortschrittshemmender Verhältnisse. Erkenntnisse entständen aus genauer Beobachtung, Messung und Darstellung. Darauf basierende Theorien seien Instrumente, um Aussagen über Zukünftiges treffen zu können. Jede Beobachtung und Theorie unterliege prinzipiell der Kritik durch neue Beobachtungen und Analyse. Grundlegend ist außerdem die Annahme der eigenen Begrenztheit, der Respekt vor der Komplexität der natürlichen Umwelt und dem Chaos der menschengemachten Realität. Dieses Dahinfließen der Erkenntnis ist grundsätzlich schwer auszuhalten, steht es doch im Gegensatz zum Bedürfnis nach festen Erklärungen und Stabilität. In Krisenzeiten steigt diese Spannung und schlägt derzeit sogar in eine große Erklärungsgegenbewegung um.
Die aktuellen Antworten der Wissenschaft, gekoppelt mit einschneidenden politischen und sozialen Maßnahmen, erscheinen fragwürdig. Man muss feststellen: natürlich sind sie das, genauso wie alles andere, was wir im Moment wissen.
Die großen massenpsychologischen Vorteile der unglücklichlicherweise als »Theorien« bezeichneten mystifizierenden Welterklärungsideologien sind ihre Umfassenheit und Bewertungsstärke. Sie lassen nichts offen und haben für alles eine Erklärung. Sie kennen keine Korrelationen, sondern nur Kausalketten. Gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse sind für sie immer auf genau benennbare Ursachen und Urheber zurückführen. Wenn zwei Ereignisse aufeinander folgen, ist das zweite die Folge des ersten. Dass sie aus zwei unterschiedlichen Ereignisketten erwachsen und sich nur zufällig treffen können, erscheint den Erklärern fremd, auch gefährlich und kann nicht zugelassen werden. Insbesondere muss es für Negatives sofort einen Schuldigen geben, je konkreter desto besser. Wenn also beispielsweise ein Pharmaunternehmen plötzlich in einer medizinischen Krise zu unerwarteten Profiten kommt, muss dieses Unternehmen oder eine hinter ihm stehende Kraft doch der Urheber eben dieser Krise sein. Die sinnvolle Frage »Wem nützt es?« verliert durch ihre verkürzte und schematische Anwendung ihren Wert. »Argumente« werden in diesem Denken zu Spielkarten wie in einem Fantasy-Rollenspiel. Man wirft sie ab, um einen gewünschten Effekt zu erzielen, am anderen vorbei zu ziehen, ihm seinen Spielvorteil zu nehmen und am Schluss als Sieger dazustehen. Die »Argumente« sind magische Kugeln, die man wirft und auf dem Gegenüber zerplatzen lässt. Wenn der nicht gleich wankt, wirft man eben die nächste. Niemand macht dies virtuoser als der große Krisengewinner Ken Jebsen (Ex-Journalist bei rbb) in seinen Tiraden.
Da Verschwörungstheorien in Wirklichkeit nichts erklären können, brauchen sie einen Sicherungsmechanismus, eine ultimative magische Kugel. Es ist die Geschichte von den Brunnenvergiftern, Kinder-Ritualmördern, Weltverschwörern und Rothschilds, heute verpackt als Chemtrail, Zwangsimpfung, WHO und Bill Gates. Man kann das alles in deutscher Sprache nachlesen. Schließlich lag das Buch zwischen 1933 und 1945 in den meisten deutschen Haushalten. Der Autor hielt sich nicht mit Andeutungen auf, sondern erklärte, wer die »Blutsauger«, »Lügner«, »Einschmeichler der Regierenden«, »Strippenzieher« und »Epidemien-Auslöser« sind: es wäre die »jüdische Rasse«. Verschwörungsideologie braucht im Kern die Figur des Juden im Hitlerschen Sinn. Sie muss gar nicht so heißen, nicht benannt werden, es ist die Struktur des Denkens, die nach ihr ruft.
Vielleicht ist die beste Antwort auf Verschwörungstheoretiker die Frage nach der Konsequenz. Was soll denn bitte mit den »Schuldigen« passieren?