Hoppla, wir leben!
20. März 2021
Das Politische Theater des Erwin Piscator
Vor 55 Jahren, am 30. März 1966, starb Erwin Pis-cator, der mit seinen letzten Inszenierungen an der Freien Volksbühne in Westberlin eine Auseinandersetzung mit den Naziverbrechen einforderte. Schon in den 20er Jahren prägte er als experimentierfreudiger Avantgardist die Theaterlandschaft und wurde als Vorläufer des epischen Theaters, als Verfasser der Schrift »Das Politische Theater« sowie durch spektakuläre Inszenierungen mit filmischen Projektionen, diversen technischen Apparaturen und innovativen Bühnenbauten bekannt.
Nach seiner Schauspielausbildung wurde der 1893 geborene Piscator zum Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg eingezogen. Lag ihm schon zu Beginn jede nationale Begeisterung fern, prägten die Kriegserfahrungen in ihm ein pazifistisches und sozialistisches Weltbild aus.
Kunst durch »Brennspiegel des Lebens« gestalten
Die politischen Umbrüche und revolutionären Kämpfe, die das Ende des Krieges einleiteten und das Kaiserreich begruben, spiegelten sich seiner Meinung nach trotz einer bewegten und vielfältigen Kunstlandschaft in ihr nicht adäquat wider. Piscator wollte Kunst durch den »Brennspiegel des Lebens« gestalten und mittels Theater aktiv in politische Kämpfe eingreifen. So arbeitete er gemeinsam mit vielen anderen Künstlerpersönlichkeiten wie John Heartfield, George Grosz, László Moholy-Nagy, Leo Lania und Bert Brecht an einem politischen Theater. Es sollte tagesaktuell und journalistisch sein und nicht nur gefühlsmäßig auf das Publikum wirken, sondern sich ganz bewusst an dessen Vernunft wenden und neben Begeisterung vor allem Aufklärung, Wissen und Erkenntnis vermitteln.
An der Volksbühne brachte das Arbeitskollektiv um Piscator Dokumente in die Szene ein, um die Hintergründe des Gezeigten zu erhellen. Mittels Montage der gespielten Szenen auf der Bühne mit Projektionen diverser Zwischentexte, von Archivmaterial und Filmen steigern sie das Szenische ins Historische, Politische, Ökonomische und Soziale. So wird in »Trotz alledem« 1925, nachdem die Schauspieler über die Kriegskredite abgestimmt haben, ein Film eingespielt, der Bombenexplosionen und Tote zeigt. Das erinnert an Eisensteins Montagetechnik, die der sowjetische Regisseur etwa zeitgleich entwickelte. An die beweglichen Bühnenaufbauten Meyerholds erinnern wiederum die Etagen- oder die Segment-Globusbühne, die Piscator verwendet, um auf mehreren Ebenen spielen und Zusammenhänge zwischen den Szenen herstellen zu können.
Um auch den Theaterbau an neue Verhältnisse anzupassen und die »Guckkastenbühne« aufzuheben, entwarf Walter Gropius eine neue Theaterarchitektur ohne Ränge, Logen und Galerie, die als Ausdruck einer feudalistischen Gesellschaft »das Publikum zerreißen« würde. Der neue Theaterraum sollte variabel bespielbar sein und es ermöglichen, auch zwischen den Zuschauern zu spielen, um das Publikum aktiv ins Geschehen einzubeziehen.
Nach dem Bruch mit der Volksbühne, die ihre überparteiliche Ausrichtung als Besucherorganisation gefährdet sah, eröffnete Piscator 1927 seine eigene Bühne mit Ernst Tollers »Hoppla, wir leben!«. Im Gegensatz zu den »O-Mensch-Dramatikern«, die sich auf innere Kämpfe des Individuums konzentrierten, das sich gegen ein Schicksal aufbäumt, will Piscator die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Stellung und Funktion zeigen. Auch dies war eine Konsequenz seiner Erfahrungen im Krieg: »Der Mensch, als Einzelwesen unabhängig oder scheinbar unabhängig von gesellschaftlichen Bindungen, egozentrisch um den Begriff seines Selbst kreisend, ruht in Wirklichkeit unter der Marmorplatte des ›Unbekannten Soldaten‹.«
1934 produzierte Piscator in der Sowjetunion seinen einzigen Spielfilm »Der Aufstand der Fischer« nach der Novelle von Anna Seghers. 1936 ging er nach Frankreich und 1939 in die USA, wo er als Leiter einer Schauspielschule zahlreichen prominenten Flüchtlingen aus Europa während des Zweiten Weltkriegs Beschäftigung ermöglichte.
Geschichtspolitische Auseinandersetzung
Nach der durch den McCarthyismus erzwungenen Rückkehr in die Bundesrepublik 1951, setzte er der allgemeinen deutschen Amnesie in Bezug auf den Vernichtungskrieg und den Massenmord eine geschichtspolitische Auseinandersetzung mit theatralen Mitteln entgegen.
Er inszenierte als Intendant der Freien Volksbühne Rolf Hochhuts »christliches Trauerspiel« »Der Stellvertreter«, das die Untätigkeit des Vatikans und des Papstes angesichts des Massenmordes an der jüdischen Bevölkerung thematisiert. Die Uraufführung 1963 löste eine breite Theaterdebatte aus und sorgte für internationale Kontroversen und Tumulte in mehreren europäischen Ländern.
Piscators letzte Inszenierung stellte 1965 einem breiten Publikum »Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen« vor. Das dokumentarische und minimalistische Theaterstück von Peter Weiss zum Auschwitz-Prozess warf wichtige politisch-moralische Fragen nach Verantwortung und Unrechtsbewusstsein des Individuums während des Faschismus auf, die auch uns heute noch beschäftigen.
»Man kann nichts gegen die bürgerliche Weltordnung beweisen, wenn die Beweise nicht stimmen, und sie stimmen nicht, wenn das Gefühl den Ausschlag gibt«