Ausbeutung und Gewalt

geschrieben von Georg Fülberth: geb. 1939. Von 1972 bis 2004 Professor für Politikwissenschaft in Marburg.

5. September 2013

Georg Fülberth über historische und aktuelle Formen der
Demokratiezerstörung

Jan.-Feb. 2011

Literaturquellen

zu 1) Heilbroner, Robert L.: The Nature and the Logic of Capitalism.

zu 2) Adorno, Theodor W.: Die revidierte Psychoanalyse.

zu 3) Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie.

Neuere Veröffentlichungen von Georg Fülberth:

– G Strich – Kleine Geschichte des Kapitalismus. 4. Aufl. Köln: PapyRossa Verlag 2008

– »Doch wenn sich die Dinge ändern«. Die Linke. 2. Aufl. Köln: PapyRossa Verlag 2009.

– Kapitalismus. Köln: PapyRossa Verlag 2010.

– Sozialismus. Köln: PapyRossa Verlag 2010.

Der US-amerikanische Ökonom Robert L. Heilbroner (1919 – 2005) hat darauf hingewiesen, dass Ungleichheitsgesellschaften durch das Streben nach »power« (Macht), »domination« (Herrschaft) und »prestige« (wie im Deutschen: Prestige) gekennzeichnet seien. Vom Feudalismus und den Sklavenhaltergesellschaften unterscheide sich der Kapitalismus dadurch, dass Ausbeutung hier auf nichtökonomischer Gewalt beruhe: Der Mehrwert wird nicht durch die Androhung körperlicher Zwangsmittel abgepresst, sondern aufgrund der Tatsache, dass Menschen, die keine Produktionsmittel besitzen, gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. (1)

Theodor W. Adorno aber hat darauf hingewiesen, dass unter dem Firnis scheinbar freiwillig eingegangener Vertragsverhältnisse letztlich die Androhung physischer Gewalt lauere: »Auch in der hochliberalen Gesellschaft war nicht Konkurrenz das Gesetz, nach dem sie funktionierte. Diese war stets ein Fassadenphänomen. Die Gesellschaft wird zusammengehalten durch die wenn auch vielfach mittelbare Drohung körperlicher Gewalt, und auf diese geht die ›potentielle Feindseligkeit‹ zurück, die sich in Neurosen und Charakterstörungen auswirkt.« (2)

Hierher gehört auch die folgende – auf die Zustände in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts bezogene, erstmals 1955 veröffentlichte und 2003 in Adornos Gesammelte Schriften aufgenommene – Überlegung: »Sicherlich kommt das rationale ökonomische Verhalten des Individuums nicht bloß durch den ökonomischen Kalkül, das Gewinnstreben, zustande. Das hat man viel eher nachträglich konstruiert, um durch eine dem Sachverhalt wenig Neues hinzufügende Formel sich die vom Individuum aus keineswegs selbstverständliche Rationalität des durchschnittlichen wirtschaftlichen Verhaltens einigermaßen zurechtzulegen. Wesentlicher als subjektives Motiv der objektiven Rationalität ist die Angst. Sie ist vermittelt. Wer sich nicht nach den ökonomischen Regeln verhält, wird heutzutage selten sogleich untergehen. Aber am Horizont zeichnet die Deklassierung sich ab. Sichtbar wird die Bahn zum Asozialen, zum Kriminellen: die Weigerung, mitzuspielen, macht verdächtig und setzt selbst den der gesellschaftlichen Rache aus, der noch nicht zu hungern und unter Brücken zu schlafen braucht. Die Angst vorm Ausgestoßenwerden aber, die gesellschaftliche Sanktionierung des gesellschaftlichen Verhaltens hat sich längst mit anderen Tabus verinnerlicht, im einzelnen niedergeschlagen. Sie ist geschichtlich zur zweiten Natur geworden; nicht umsonst bedeutet Existenz im philosophisch unverderbten Sprachgebrauch ebenso das natürliche Dasein wie die Möglichkeit der Selbsterhaltung im Wirtschaftsprozeß. Das Überich, die Gewissensinstanz, stellt nicht allein dem einzelnen das gesellschaftlich Verpönte als das An-sich-Böse vor Augen, sondern verschmilzt irrational die alte Angst vor der physischen Vernichtung mit der weit späteren, dem gesellschaftlichen Verband nicht mehr anzugehören, der anstatt der Natur die Menschen umgreift. Diese aus atavistischen Quellen gespeiste und vielfach weit übertriebene gesellschaftliche Angst, die freilich neuerdings wieder jeden Augenblick in Realangst übergehen kann, hat solche Gewalt akkumuliert, daß der schon ein moralischer Heros sein müsste, der ihrer sich entledigte, selbst wenn er das Wahnhafte daran noch so gründlich durchschaute.[…] Die Überzeugung von der durchsichtigen Rationalität der Ökonomie ist eine Selbsttäuschung der bürgerlichen Gesellschaft nicht weniger als die von der Psychologie als zureichendem Grund des Handelns. Jene Rationalität gründet im physischen Zwang, der leiblichen Qual, einem materiellen Moment, das innerökonomische ›materielle Beweggründe‹ ebenso übertrifft, wie es die psychologische Trieb-ökonomie sprengt.« (3)

Es geht also um das Verhältnis von Ausbeutung und außerökonomischer Gewalt. Im Feudalismus war dieses noch unverstellt: Die adligen Grundeigentümer konnten dieses ihr Grundeigentum behaupten und die Bauern zu Leibeigenschaft und Abgaben zwingen, weil sie das Waffenmonopol hatten. Der Kapitalismus erschien im Vergleich dazu zivilisierter – umso größer das Erschrecken, als im so aufgeklärt erscheinenden 19. Jahrhundert die französische Bourgeoisie in der Pariser Junischlacht 1848 und bei der Niederwerfung der Kommune 1871 Blutbäder veranstaltete. (Ihre kolonialen Massaker erregten weniger Aufsehen.) Der Faschismus des 20. Jahrhunderts – zu definieren als terroristische Gewaltherrschaft zwecks Verteidigung und/oder Fortentwicklung der kapitalistischen Produktions- und Verteilungsverhältnisse, die sich von anderen Formen bürgerlicher Diktatur durch die Permanenz des Terrors und die Dynamik seiner Innen- und Außenbeziehungen zwecks Sicherung und Ausweitung von Herrschaft unterscheidet – erschien vollends als Rückfall. Dies ist ein Irrtum. Faschismus ist vielmehr eine moderne, keineswegs ein für allemal erledigte Politikform, wie Chile 1973 zeigt.

Allerdings ist er nicht die derzeit gebräuchlichste Form von Demokratiezerstörung in hoch entwickelten kapitalistischen Ländern. Aktueller ist die immer deutlichere Unterordnung der Institutionen der Willensbildung unter Kapitalmacht, wobei die in privater Hand befindlichen Massenmedien (und auch die zunehmend deren Führung folgenden öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten) eine zentrale Rolle spielen. Auf diesem Gebiet darf Berlusconi-Italien als das modernste Land Europas gelten. Vorbild sind dabei die Vereinigten Staaten von Amerika, in denen der offen ausgewiesene Erfolg von Präsidentschaftskandidaten im Fundraising bei großen Kapital-Eignern als eine Form politischer Legitimation gilt. Wie der Polizei-Exzess während des G8-Gipfels 2001 zeigte, gehört auch in diesen deformierten Demokratien physische Gewaltanwendung zu den Mitteln von Herrschaftsausübung. Solches zeitweiliges Hervortreten der Möglichkeit physischen Zwanges mag im Alltag eine quantitative Ausnahme sein, es ist aber nicht systemwidrig, sondern erzeugt Gehorsam zu folgendem Zweck: Menschen sollen sich anpassen, nicht mehr, weil Wohlstand gefährdet ist, sondern aus Angst vor Schlimmerem. Und dieses Schlimmere ist die Gewalt, bis zu ihrer äußersten Form, der Folter. Es handelt sich also um latente Sanktionsdrohung als eine Strategie der Befriedung. Ihre Existenz ist geeignet, affirmatives Reden von der Zivilgesellschaft zu relativieren.

Ist das innere Terrain auf diese Weise unter Kontrolle gebracht, erscheint seinen Bewohnerinnen und Bewohnern das Außen als zentraler Ort der Gewalt. Jenseits der Grenzen befinde sich die »Barbarei«. Gegen sie werden folgende Maßnahmen ergriffen:

1. Schließung der Grenzen,

2. Verteidigung im Vorfeld, zum Beispiel in Afghanistan. Das deutsche Sicherheitsweißbuch von 2006 definiert die Wahrung wirtschaftlicher Interessen als eine Aufgabe des Militärs. Hierzu kann u.a. die Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen gehören. Das ist kein Faschismus, wohl aber eine neue Form des Imperialismus. Dieser kann definiert werden als die systematische und konkurrierende Ausdehnung der Herrschaft von Industriestaaten über nicht oder nur geringfügig industrialisierte Gebiete in Form von

– Kolonien,

– neu einverleibten Teilen des Staatsgebietes,

– Einflusssphären

zwecks

– Bezug von Rohstoffen,

– Waren- und Kapitalexport und

– (für Deutschland nach 1945 irrelevant)

Besiedelung.

Die Abschaffung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik widerspricht dieser Definition nicht. Durch sie werden die Streitkräfte zugleicht zur effizienteren Interventions- und (im Extremfall, dann allerdings außerhalb der Verfassung) Bürgerkriegsarmee. Letzteres ist gegenwärtig nicht in Sicht, doch der Polizeieinsatz gegen Demonstrierende in Stuttgart im Konflikt um ein untergeordnetes Objekt – einen Bahnhof – zeigt, dass außerökonomische Gewalt eine Form der Herrschaftsausübung geblieben ist.