Fortdauernd diskriminiert

geschrieben von Reinhold Weismann-Kieser

5. September 2013

Sinti und Roma in Niedersachsen und überall in Deutschland

März-April 2012

Reinhold Baaske / Boris Erchenbrecher / Wolf-Dieter Mechler / Hans-Dieter Schmid: Fremd im eigenen Land – Sinti und Roma in Niedersachsen nach dem Holocaust.

2012. 192 Seiten 19,00 Euro

Im Januar wurde im Historischen Museum Hannover ein bemerkenswertes Buch vorgestellt, das einen bisher wenig beachteten Teil der Nachkriegsgeschichte des Landes Niedersachsen und – exemplarisch – der ganzen Republik zum Gegenstand hat: Die Geschichte der Sinti und Roma, die der Ausrottung durch die Faschisten entgangen waren und versuchten, wieder in ihrer alten Heimat Fuß zu fassen. Es ist im Verlag für Regionalgeschichte in Bielefeld erschienen. Das umfangreich bebilderte und aufwändig gestaltet Werk entstand auf der Grundlage der Wanderausstellung »Fremde im eigenen Land«, die 2009 in Hannover eröffnet und seitdem an vielen Orten im Lande präsentiert wurde. Es behebt den Mangel eines Ausstellungskatalogs, geht aber vom Umfang wie von der Thematik weit darüber hinaus.

Die Ausstellung wie das Buch wurden Paul Morgenstern (1910-1978) gewidmet. Er war mit seiner Frau und seinen fünf Kindern wegen seiner »Zugehörigkeit zur Zigeunerrasse« nach Auschwitz deportiert worden. Drei seiner Kinder starben dort an Krankheit und Hunger, die beiden Überlebenden kurz nach der Befreiung durch die Rote Armee an den Folgen der Lagerhaft. Nach 1945 verzog er mit seiner Frau nach Hannover. Dort setzte er sich jahrelang unermüdlich für das Recht der Sinti auf Entschädigung für die NS-Verfolgung ein. Er wurde Gründungs- und Vorstandsmitglied des Niedersächsischen Verbandes Deutscher Sinti.

Einleitend stellt Günther Saathoff, Vorstandsmitglied der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ) den »langen Weg zur Anerkennung des Unrechts an den Sinti und Roma und die heutigen Aufgaben« dar. Er kommt dabei zu dem Schluss: »Die Nachkriegsgeschichte hatte, was die Anerkennung, Würdigung und Entschädigung« der an den Sinti begangenen NS-Verbrechen »viele dunkle Flecken, für die sich der deutsche Staat schämen muss. … Jahrzehntelang hatte er den Sinti und Roma die … ‚Verfolgteneigenschaften‘ im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) bestritten.« Nach der bis in die 60er Jahre geltenden Rechtssprechung waren nicht rassistische Gründe sondern ihre »asoziale Lebensweise«, die Ursache ihrer Verfolgung, womit deren Charakter als Völkermord geleugnet wurde! Wie andere Verfolgte mussten sie außerdem erleben, dass »die NS-Täter … als Gutachter an Entschädigungsverfahren beteiligt waren.« Erst mit der Einrichtung der EVZ wurden Entschädigungszahlen ermöglicht, die auch Betroffene einbezogen, die von dem engen Rahmen des BEG ausgegrenzt worden waren. Das Kapitel stellt dar, wie nach Abschluss dieser Zahlungen Projekte der Erinnerungsarbeit und der gesellschaftlichen Integration der Sinti und Roma gefördert werden. Damit sollen Benachteiligungen überwunden werden, die Folgen der NS-Geschichte sowie späterer Diskriminierung sind. Dabei geht es besonders um Projekte zum Ausgleich der »Bildungsmisere« die sich nicht zuletzt in der großen Zahl von Schulabbrechern unter den Jugendlichen zeigt. Hervorgehoben wird dabei die große Bedeutung der Selbstorganisation der Betroffenen und deren Förderung.

Die folgenden Kapitel handeln von der Vorgeschichte der seit 600 Jahren hier lebenden nationalen Minderheit der »Zigeuner«, der Diskriminierung und Verfolgung, die dann im Völkermord der faschistischen Politik der »Endlösung« gipfelte.

Die Situation nach der Befreiung wird geschildert als Versuch eines Neubeginns, der von der fortgesetzten Verfolgung und Kriminalisierung der »Landfahrer« durch Polizei und andere Behörden behindert wurde.

Im dritten Kapitel wird die Frage nach den Tätern und deren Einfluss auf die Nachkriegsgeschichte gestellt. Darin wird gezeigt, dass die faschistische »Zigeunerforschung« mit ihrem »rasssenhygienischen« Ansatz ungehindert fortgesetzt wurde. Auch der Datenaustausch zwischen diesen »Wissenschaftlern« und den Polizei- und Verwaltungsorganen wurde weiter betrieben! Erst 1981 erzwangen Sinti und Roma die Überstellung der »Rasseakten« aus dem Universitätsarchiv in Tübingen in das Bundesarchiv und setzten so diesem »Forschungszweig« ein Ende.

Strafverfahren gegen die Organisatoren der Deportationen und des Völkermords wurden lange Zeit nicht durchgeführt oder eingestellt. Erst 1987 kam es zum Prozess gegen einen der Haupttäter, dem Blockführer des Zigeunerlagers in Auschwitz, Ernst August König, bei dem noch Paul Morgenstern als Zeuge aussagen konnte, bevor er kurz danach verstarb.

Die Präsentation des Buches erfolgte durch Reinhold Baaske, Koautor und Vorsitzender des Vereins für Geschichte und Leben der Sinti und Roma in Niedersachsen e.V. Grußworte sprachen Dr. Thomas Schwark, Leiter des Historischen Museums Hannover und Rolf Keller, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Die Sinti waren auf dem Podium durch Oswald Clemens vertreten. Eine rege Diskussion, in der auch weitere Autoren das Wort ergriffen, beschloss die Veranstaltung.